Roland Buti: Le Milieu de l'horizon

25. Juni 2014

Liebe Verleger und Uebersetzer, das wär doch wiedermal ein Buch für die Deutschschweiz. Roland Butis Roman «Le Milieu de l’horizon». Wir tauchen in die Welt eines Bauernhofs in der Waadt im Hitzesommer 1976 ein. Eine Berner Familie, vor vier Generationen eingewandert. Aber dem Zmorgen nach zu urteilen, hat man sich immer noch nicht integriert, man isst nicht wie in der Waadt, es gibt es immer noch Rösti mit Milchkaffee. Man spricht natürlich schon lange nicht mehr deutsch, ausser mit dem Pferd. Vater, Mutter, Grossvater, Gus, der 13-jährige Erzähler und Rudy, ein Trisomie21-Junge, den die Familie aufgenommen hat – das ist das menschliche Personal. Dann die Tiere. Alles Persönlichkeiten. Auch die Hühner, die die Soldaten mit dem Jeep verkarren oder die Rudy und Gus tot aus der Halle tragen müssen. In diesem Sommer gerät alles aus den Fugen. Das Unglück nimmt vorerst unbemerkt seinen Lauf und in kurzer Zeit liegt alles darnieder, Familie, Hof, das alte Pferd wird vom Blitz getötet. Eine grossartiges Buch, wunderbare Sprache, lauter gute Geschichten. Man könnte diesem Gus noch lange zuhören.

Das Buch erhielt den Prix du Public RTS 2014.


Szilàrd Borbély: Die Mittellosen

Um den Kindern das Träumen abzugewöhnen, stecken sie eine Katze in den Sack. Dann erschlagen die Bauern sie neben dem schlafenden Kind. "Damit die Todesangst des Tieres in das Kind übergeht." So steht es in dem grausamen und großartigen Roman von Szilárd Borbély. Der hat sich im Februar 2014 das Leben genommen.

Aus der Perspektive eines Elfjährigen erzählt, sind Die Mittellosen ein einzigartiges literarisches Dokument der menschlichen Niedertracht. Wie Szilárd Borbély das Ausspucken, die Schleimklumpen, die von Maden wimmelnden Kadaver, die schnapstrunkene dumpfe Aggression, wie er die ausgemergelten, sabbernden, vulgären Teilnehmer dieses teuflischen Spiels schildert, ist schlicht bewundernswert. Besser als so vieles Hochgerühmte.


Robert Seethaler: Der Trafikant

2014

 

Ein Jahr im Leben des Franz Huchel aus Nussdorf am Attersee. Er bekommt eine Stelle in einem Kiosk, einem Trafik in Wien. Und da fasst er den Job alle Zeitungen zu lesen, die verkauft werden. Wir sind 1937/38. Es ist eine Zeit, wie sie Helmut Qualtinger so gut erzählt hat. Der Trafik wird von einem Nachbarn, dem Fleischhauer, mit Hühnerblut beschmiert, weil der Trafik auch Juden bedient. Einer von diesen ist Sigmund Freud, der sogar ein Recht auf Hauslieferung hat – für Zigarren und Zeitungen.  Es folgt eine reizvolle Begegung zwischen dem jungen Franz und Sigmund Freud…


Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Vielleicht Esther. Geschichten (2014) ist ein Werk von Katja Petrowskaja. Darin wird der Hergang des Völkermordes an der jüdischen Bevölkerung von Kiew durch Nationalsozialisten anhand der Geschichte von Esther erzählt, die der Großmutter des Vaters der Autorin ähnelt. Sie wurde 1941 in Kiew verschleppt und bei dem Massaker von Babyn Jar ermordet. Vielleicht hat sie Esther geheißen.

Thematisiert wird, wer für die Wahrheit unserer Geschichte zeugt und wie man erzählt, was man nicht weiß – noch dazu in der Sprache der „Stummen“, was in russischer Sprache die wörtliche Übersetzung für die Bezeichnung „Deutsch“ ist.

In der Geschichte „Vielleicht Esther“ wird gefragt: „Woher kenne ich diese Geschichte in ihren Einzelheiten? Wo habe ich ihr gelauscht? Wer flüstert uns Geschichten ein, für die es keine Zeugen gibt, und wozu?“

Für ihre Lesung der Erzählung „Vielleicht Esther“, die im Buch Vielleicht Esther am Ende des 5. Kapitels ihren Platz gefunden hat, wurde Katja Petrowskaja 2013 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und für das gesamte Werk Vielleicht Esther 2014 mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet.



Michel Rostain: Als ich meine Eltern verliess

21. Februar 2014

Von mir aus hätte ich in der Buchhandlung nicht nach diesem Buch gegriffen. Ich habe es auf Empfehlung gelesen. Es ist zuerst auf Französisch erschienen, 2011, und als bester Erstlingsroman („Le Fils“) des Prix Goncourt ausgezeichnet worden. Ein zwanzigjähriger Mann stirbt und erzählt als Toter seine letzten Tage und die Tage, Wochen, Monate danach. Eben diese Anlage hat mich überhaupt nicht angemacht. Aber den Blick, den der junge Lion auf seine Eltern wirft, wie er sie beobachtet, wie er sich so seine Gedanken über den Vater macht – das ist alles ganz grosse Klasse. Obwohl der Anlass traurig ist, gibt es nie Gejammer. Die Geschichte ist berührend, rührend, witzig sogar. Geschrieben hat das Buch Michel Rostain, der im wirklichen Leben tatsächlich einen Sohn verloren hat.