17. Dezember 2022
1944 vertreiben die Partisanen im Ossolatal nach harten Kämpfen vorübergehend die deutsche Wehrmacht und die faschistischen Italiener. Gino Vermicelli, damals selbst aktiver Widerstandskämpfer, schildert in seinem autobiografisch gefärbten Roman die entscheidenden Etappen dieses Krieges im Krieg. Antiautoritär und antimilitaristisch begleiten Politkommissar Simon und Kommandant Emilio ihre Leute durch die tragische Monate. Ein wenig Soldatenromantik darf da nicht fehlen. Im Herbst 1944 entstand dann in Domodossola die Republik Ossola, die 44 Tage hielt.
16. Dezember 2022
Der sechste und letzte Band ist anders als die Bände 1-5. In diesen ist uns erzählt worden, wie sich die Eltern in Paris als Doktoranden in Soziologie kennengelernt haben. Die Mutter des kleinen Ryad kam aus der Bretagne, der Vater aus Syrien. Der Vater sah sich als Vertreter einer modernen, aufgeklärten arabischen Welt, ein Araber von morgen eben. Unter diesen Voraussetzungen zogen die drei in die arabische Welt, in der sich der Vater immer mehr zum religiösen und konservativen Araber entwickelte. Das Paar trennte sich und Mutter zog mit den inzwischen zwei Buben zurück nach Frankreich. All diese Ereignisse erzählt Satouff mit sehr viel Witz und Frechheit. Im sechsten Band lernen wir den jugendlichen Riad kennen, wie er unter grossen Schwierigkeiten seinen beruflichen Weg einschlägt. Parallel dazu erfahren wir, dass der Vater den jüngeren Sohn nach Syrien entführt hat und die Mutter während Jahren verzweifelt versucht, ihr Kind wieder nach Frankreich zurück zu bekommen. Zu all dem fallen Satouff keine Spässe ein. Spannend von A bis Z.
7. Dezember 2022
Also wer wegen Genderzeug Bibeli bekommt und meinte, dass das Buch nix für sie/ihn ist – so einfach geht es dann doch nicht. Es ist zuerst einmal eine Familiengeschichte: Grossmutter, Mutter, Sohn. Und die liest sich sehr gut, obwohl Kim de l’Horizon sich einiges herausnimmt in Sachen Sprache und Form. Es holpert auch, find ich, wenn die im Mittelalter gleich räsoniert und gefühlt haben sollen wie wir heute. Klar, da ist auch das Genderthema, aber es ergibt sich wie selbstverständlich in der Geschichte.
6. Dezember 2022
Abgesehen davon, dass das damals, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, noch andere Zeiten waren, dass uns von einem Zeno Cosini erzählt wird, der sich keine materiellen Sorgen zu machen brauchte, auch nicht die Frauen, die er heiraten wollte und dass man sich noch höfischer benahm, ist das Buch ein Lesevergnügen. Zeno leidet so schön und ist so liebenswürdig daneben. Er macht sich über Ärzte lustig und vor allem nimmt er die damals aufkommende Psychoanalyse aufs Korn, wobei man den ganzen Roman als Psycho-Analyse lesen kann.
8. November 2022
Das ist eine Reportagensammlung aus dem Jahr 2008. Hat sich seither viel verändert? Interessant ist doch, dass sowohl in Frankreich wie in den USA eine klare Trennung von Kirche und Staat gilt. Aber wie unterschiedlich doch die Praxis ist! Man stelle sich Präsident Macron vor, der eine Rede mit: vive la République et que Dieu bénisse la France! schliessen würde. Es ist ja nicht so, dass die katholische Kirche in Frankreich nicht um einen Platz im Staat kämpfen würde, etwa mit der Sacré Coeur in Paris (das gedemütigte Frankreich (dt-frz Krieg) sollte wieder Gott empfohlen werden und es sollte Busse für die Verbrechen der Kommunarden getan werden) oder Notre-Dame de Fourvière in Lyon oder die Grossdemos gegen die Ehe für alle. In den USA ist man gläubig. Dabei spielt es nicht so sehr eine Rolle, welcher Religion oder Konfession man angehört. Auf rund 800 Amerikaner kommt ein Gotteshaus. Die USA sind das frömmste westliche Land. Dabei spielen „Volksreligionen“ eine dominierende Rolle. Die Evangelikalen kommen sehr gut ohne gelehrte Theologen aus, Luther dreht sich im Grabe um. Die Katholiken sind einerseits noch mit den Missbrauchsskandalen beschäftigt und freuen sich anderseits über den grossen Zulauf hispanischer Christen, die auch zu volkstümlicher Religionspraxis neigen. Aehnlich bei den Muslimen und den Juden. Gut ist auch in den USA, wenn man einen Propheten auf amerikanischem Boden vorweisen kann, wie etwa die Mormonen oder wie bei der Nation of Islam damals. Und der Einfluss auf die Politik? Auf jeden christlichen Abgeordneten kommen 475‘000 Christen. Gläubige haben die viel besseren Chancen sich politisch durchzusetzen. Am besten machen das die knapp 6.5 mio jüdischen Amerikaner, sie werden von 30 Politikern vertreten. Allerdings sind diese Juden nicht mehr die bevorzugte Lobby Israels, das hat Netanjahu deutlich gezeigt, der viel mehr Unterstützung von den Evangelikalen bekommt (warum das so ist – das wäre nochmals ein ganz anderes Thema)- Moslem oder Hindus bringen es auf eine halbe Million pro Politiker. Die etwa 75 mio Konfessionslosen werden nur durch eine Repräsentantin im US-Kongress vertreten (Stand heute). Alle diese „Volksreligionen“, ob christlich oder nicht, verbinden Abtreibungs-, Schwulen-, Feminismus- und Sozialismusgegnerschaft.
28. Oktober 2022
Die neuesten Geschichten von Jean-Pierre Rochat. Eigentlich ein Tagebuch. Die Geschichten über die Lieben, die Aerger, die Ziegen und die Esel hoppeln davon, übers Bahngeleise und verschwinden hinter dem Bauernhof. Vernissage morgen Donnerstag um 19 Uhr in der Buchhandlung Bostryche in Biel.
28. Oktober 2022
Der Roman erzählt von einer 47-jährigen Frau, die ihren Mann und Tochter verlassen hat und zu ihrem Bruder ans Meer zieht. Sie hat mal, als sie noch in einer Zigarettenfabrik arbeitete, beinahe das Angebot eines Zauberers angenommen, mit ihm nach Singapur zu reisen und für ihn die in einer Kiste zu zersägende Frau zu spielen. Mit einer Kiste hat auch die zahnlose Freundin seines Bruders Bekanntschaft geschlossen – die Eltern haben sie regelmässig darin eingeschlossen. Auch die Schweine eines Freundes leben in Kisten, genauer in Boxen. Alles lakonisch und dauermelancholisch. Hat mich an little boxes von Malvina Reynolds erinnert (1961…) https://www.youtube.com/watch?v=VUoXtddNPAM
24. September 2022
Wir sind in Gaza im Jahr 1974. Es ist die Geschichte eines IKRK-Delegierten und vorallem von seiner Frau Piper. Die wird ganz selten beim Namen genannt, sie ist meist nur „la femme“. Während der Mann seiner Arbeit nachgeht, Gefängnisse besuchen, sucht die Frau eine Daseinsberechtigung. Sie lässt sich von einem Einheimischen einen Garten anpflanzen, geht mit anderen Frauen von Delegierten in den Ausgang, verliebt sich in ein Bébé, das im Spital abgegeben wird, ist unglücklich. Das wird knapp und distanziert erzählt. Hier ist alles sehr fragil, die Paarbeziehung, die Beziehungen überhaupt, die politische Lage. Der Roman ist für den Prix Médicis und den Prix Fémina nominiert! Anne-Sophie war mal Sachbearbeiterin beim Radio RTS. Ein Beweis, dass man auch nach dem Radio noch was werden kann…
24. September 2022
Immer häufiger kommen Antibiotika nicht mehr gegen multiresistente Keime an. Da kommen die Phagen ins Spiel. Das sind Viren, die die Bakterien killen, in der Theorie. In der Praxis ist das noch eine ziemlich wackelige Sache. In einem ersten Buch (Gesund durch Viren. Ein Ausweg aus der Antibiotika-Krise. 2003) hat Thomas Häusler den damaligen Stand der Wissenschaft nachgezeichnet (mit Besuch bei den Pionieren in Georgien) und die spannende Geschichte der Erforschung der Phagen erzählt. Jetzt, 19 Jahre später, staunt man, wieviel Wissen die Forscher in der Zwischenzeit angesammelt haben und wie wenig wir immer noch wissen. Aber es gibt schon von therapeutischen Erfolgen in Krankenhäusern zu erzählen. Es ist äusserst spannend, diese Kapitel von Medizingeschichte zu lesen, zu lesen, wie ernsthafte Forschung geht, aufwändig nämlich und nichts für schwache Nerven.
13. September 2022
Glücklich der deutschsprachige Verlag, der sich bereits die Rechte für die Uebersetzung gesichert hat (wenn nicht sollte er das hurtig machen). Das wird ein Erfolg. Dieser Erstlingroman hat schon mal den Prix fnac bekommen und steht auf einer Art shortlist für den Prix Goncourt. Es ist die Geschichte von einer Familie in einem Walliser Bergtal. Frau und zwei Töchter werden von Mann und Vater aufs übelste misshandelt. Jeanne, die eine Tochter und Erzählerin rettet sich als junge Frau in Lehrerseminar nach Sion, später an die Uni Lausanne. Sie bleibt Gefangene ihrer Vergangenheit, ohne Pardon. Man liest das in einem Zug, kurze scharfe Sätze. So fängt das an: „ Tout à coup il avait un fusil dans les mains. La minute d’avant, je le jure, on mangeait des pommes de terre. Presque en silence. Ma sœur jacassait. Comme souvent. »
13. September 2022
Das ist der erste Teil einer Tetralogie, einer Familiensaga aus La Chaux-de-Fonds. Die Autorin ist in der Deutschschweiz dank Charles Linsmayer bekannt geworden. Eine verrückte Biografie! In La Chaux-de-Fonds geboren, hat in Bern einen protestantischen Theologen geheiratet und am gleichen Tag mit ihm zum Katholizismus konvertiert. In Bern war sie die Assistentin des berühmt/berüchtigten Gonzague de Reynold (Bewunderer von Salazar und Mussolini, er wollte die Schweiz zu einem autoritären Ständestaat machen). Aber die Pfaffen hatten sie trotzdem im Auge: in ihrer Bibliothek fanden sie Werke von Jean Calvin und von Michel de Montaigne. Man befand also, dass sie innerlich noch nicht reif für den Katholizismus war, zumal sie keine Anstalten machte, diese Werke auszusortieren. Sie wurde kurzerhand von den Sakramenten ausgeschlossen, also keine Beichte, keine Kommunion, etc. Zudem hat man ihr untersagt, mit ihrem Mann Gespräche über Religion zu führen. Das war in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Später zog das Paar nach Paris, ihre letzten dreissig Lebensjahre verbrachte sie mehrheitlich krankheitshalber im Bett. Der Roman spielt in einer imaginierten Landschaft von La Chaux-de-Fonds, es ist Herbst und Winter und schwer und melancholisch.
31. August 2022
„In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt. Die Menschen haben immerzu ein Gespür. Die Vorhänge im Ort bewegen sich wie von leisem Atem getrieben, ein und aus, lebensnotwendig. Jedes Mal, wenn Gott von oben in diese Häuser schaut, als hätten sie gar keine Dächer, wenn er hineinblickt in die Puppenhäuser seines Modellstädtchens, das er zusammen mit dem Teufel gebaut hat zur Mahnung an alle, dann sieht er in fast jedem Haus welche, die an den Fenstern hinter ihren Vorhängen stehen und hinausspähen. Manchmal, oft, stehen auch zwei oder sogar drei im selben Haus an den Fenstern, in verschiedenen Räumen und voreinander verborgen. Man wünschte Gott, dass er nur in die Häuser sehen könnte und nicht in die Herzen.“
Das ist der erste Abschnitt des Buches und damit ist eigentlich schon fast alles gesagt. Man könnte vielleicht noch das Motto des Romans dazu nehmen: „Die Oesterreicher sind ein Volk, das mit Zuversicht in die Vergangenheit blickt (Redensart)“
Der Hintergrund des Romans ist das Massaker von Rechnitz (im Burgenland, an der österreichisch/ungarischen Grenze). Im März 1945 sind dort vermutlich an die 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter während eines Schlossfestes ermordet worden. Sie waren am Bau des Südostwalls Hitlers eingesetzt, erschöpft und krank. Der Fall konnte nie richtig aufgeklärt werden, die meisten Leichen wurden nie gefunden. Es ist schon viel über das Massaker geschrieben worden, von Elfriede Jelinek wurde 2008 ein Stück aufgeführt. Und jetzt also Eva Menasse. Sie setzt bei den Spätfolgen an, im Spätsommer 1989, während hinter der nahegelegenen Grenze zu Ungarn bereits Hunderte DDR-Flüchtlinge warten, trifft ein rätselhafter Besucher in der Stadt Dunkelblum ein. Da geraten die Dinge plötzlich in Bewegung: Auf einer Wiese am Stadtrand wird ein Skelett ausgegraben und eine junge Frau verschwindet. Wie in einem Spuk tauchen Spuren des alten Verbrechens auf - und konfrontieren die Dunkelblumer mit einer Vergangenheit, die sie längst für erledigt hielten. Das Stichwort ist hier: Indolenz. Was die Leute erlebt und getan haben, haben sie verdrängt, was bleibt ist Gefühllosigkeit. Das handelt Manessa sprachlich absolut brilliant ab (siehe oben) und spart auch nicht mit charmanten Austriazismen (ein Kummerl z.b. ist ein Kommunist), aber die Geschichte geht darob etwas verloren und bleibt dunkelblümerant.
30. August 2022
Bis ins 19.Jh. sprachen die Welschen Dialekt, patois, im Nordjura Oïlisch, Dialekte der langue d’oïl, im Rest der französischen Schweiz frankoprovenzalische Idiome. Aber das Französische rieselte schon seit dem Mittelalter ins Land. Beschleunigt haben den Prozess natürlich die Nähe von Frankreich und die Reformation. Schliesslich beherrschten sie die Sprache so gut, dass man die Schüler aus Berlin, London und Moskau nach Genf oder Neuenburg schickte oder sie als Lehrer und Lehrerinnen an den Höfen Europas engagierte. Habe auch ein neues Fremdwort gelernt: Cacologie. Das ist die Wissenschaft von den Wörtern, die zwar grammatikalisch richtig wären, aber falsch angewendet werden (oder so ähnlich). Zum Beispiel: il est grièvement malade. Gibt’s auch deutsch: Kakologie.
21. August 2022
Als Vorbereitung für eine Slowenien-Reise gedacht. Es werden ja einige der Isonzo-Schlachten geschildert. Das Verhältnis unter den Soldaten und die Beziehungen zum amerikanischen Leutnant sind ausnahmslos heldisch und die Liebesgeschichte, die tragisch in Lausanne endet schon ziemlich kitschig. 1929 erschienen.
14. August 2022
Erzählt, wie nur Alexandre Voisard es kann. Z.B. die zwei Herren, gleich alt, gleiches Pult, gleicher Bleistiftspitzer, aber der eine ist der Chef und der andere sein Untergebener. Sie gehen miteinander mittagessen, der Fisch kommt auf den Tisch, d.h. ein grosser und ein kleiner Fisch. Der Chef meint: Bedienen Sie sich. – Aber nein doch, Sie sind der Chef, Sie zuerst. Er nimmt ohne mit der Wimper zu zucken den grossen Fisch, so dass der Untergebene nur leer schlucken kann. Was ist denn, meint der Chef, was hätten denn Sie getan? – Ich hätte den kleinen Fisch genommen. – Also wo ist denn das Problem, jetzt haben Sie ja den kleinen Fisch.
12. August 2022
Wer 800 Seiten über Napoleon schreibt, hat auch Musse um Details zu erzählen. Z.B. wie Napoleon zu Joséphine kam. Einer seiner Förderer hatte eine Geliebte (Joséphine). Die wurde ihm lästig und wollte sie loswerden, elegant wenn möglich. Also besorgte er ihr ein nettes Häuschen in Paris und überzeugte Napoléon, dass er sie doch heiraten sollte. In der Nacht vor dem Termin auf dem Standesamt brütete er, was er ja am besten konnte, über Schlachtplänen, während sein Tutor ein letztes (?) Mal sich mit der Geliebten vergnügte. Immerhin war Joséphine pünktlich beim Standesamt, Napoleon verspätete sich, so sehr hat er sich in die Schlacht vertieft. Des Wartens überdrüssig ging der Standesbeamte wieder nach Hause. Da war aber ein Stellvertreter, der hatte aber keine Heiratsbewilligung. Auch der Trauzeuge war eigentlich nicht autorisiert Zeuge zu sein, weil zu jung. Joséphines Papiere waren ungültig, sie hat sie gefälscht und sich jünger gemacht und Bonaparte verlegte seinen Geburtstag auf einen Revolutionstermin. Also alles ungültig. Das hinderte Napoleon nicht, seiner Joséphine auch während der zahlreichen Schlachten des Abends oberkitschige Briefe zu schreiben. Er liebte sie abgöttisch und sie trieb es mit einem Husarenoffizier.
Abgesehen von den Einblicken in das Privatleben Napoleons fand ich verstörend, wie schnell und wie gründlich er ein revolutionäres Frankreich wieder in ein monarchistisches verwandelte mit allem höfischen Drum und Dran, auf das er bestand, obwohl es für alle ziemlich peinlich rüberkam. Unglaublich, wie so ein kleiner dicker Korse, der auch Französisch mit einem starken Akzent sprach, so viele Menschen faszinieren und überzeugen konnte. Auffallend sind heute jene Kapitel, die von Zar Alexander und der russischen Politik handeln. So viel hat sich da nicht verändert, würde man meinen. Histoire de la longue durée.
13. Juli 2022
Der Weg in die Zukunft ist düster, warum nicht zurück in die Vergangenheit? Das wird in diesem Roman durchgespielt. Es fängt mit einer Klinik in Zürich an, wo Demenzpatienten in jenes Jahrzehnt versetzt werden, in dem sie sich glücklich fühlten. Warum nicht ganze Länder zurückversetzen? Eine Referendumswelle erfasst Europa. Aber warum beginnt alles in Zürich? „Die Langeweile ist das Emblem dieser Stadt. In ihr haben Canetti, Joyce, Dürrenmatt, Frisch und sogar Thomas Mann sich gelangweilt.“ (Dürrenmatt?) Die Schweiz als Land der Sterbehilfe. Der Erzähler wundert sich, dass dieses Business nicht Aufnahme in die Tourismusbroschüren gefunden hat. Der denkende Kopf der Sache heisst Gaustín (von Augustinus) und er verabschiedet sich von seinem Freund und Erzähler in der Logik des Romans mit einem abgewandelten Satz vom Soldat Schwejk: Wir treffen uns wieder um sechs vor dem Krieg. Den Roman kann man auch aus Essay über Vergangenheit und Zukunft oder Essay über Europa lesen, aber auch als Sammlung verschiedenster Reenactements. Wir werden aber auch daran erinnert, dass die alten Mythen (und die neuen Ideologien) es nicht mögen, wenn man den Lauf der Dinge umdreht. Orpheus, der sich umgedreht hat, wird Euridike für immer verlieren, Lots Frau, die sich nach Sodom umgedreht hat, wird zur Salzsäule erstarren. Allerdings, in der Apokalypse des Johannes heisst es: „…und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist“. Der verschwundene Gaustín hinterlässt dem Erzähler und Mitarbeiter Notizen. Da findet sich ein Kapitel über das Syndrom der Unzugehörigen: „Keine Zeit gehört dir, kein Ort ist dein. Das, wonach du suchst, sucht nicht nach dir, jenes, wovon du träumst, träumt nicht von dir. Du weisst, dass etwas an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit dein gewesen ist, deshalb durchstreifst du ständig vergangene Räume und Tage. Doch wenn du am richtigen Ort bist, ist die Zeit eine andere. Wenn du in der richtigen Zeit bist, ist der Ort verschieden. Unheilbar.“
11. Juli 2022
23. Juni 2022
Der Roman erzählt den Biafra-Krieg, als die Igbo (wir sagten damals Ibo) in den 60er Jahren sich von Nigeria trennen wollten. Ugwu kommt vom Dorf als kleiner Junge als Hausboy zum Uniprofessor in die Stadt. Er lernt da lesen und schreiben. Olanna, die Geliebte des Hausherrn, nimmt den Jungen unter die Fittiche. Sie stammt aus einer reichen und korrupten Familie. Ihre Zwillingsschwester, den Geschäften weniger abgeneigt, lebt mit Richard, einem englischen Schriftsteller zusammen. Alle aber sind sie vom Erfolg des Igbo-Befreiungskampf überzeugt. Es ging alles schief, wie wir wissen, einer der schlimmsten Bürgerkriege Afrikas.
15. Juni 2022
Shibli ist eine 1974 geborene Palästinenserin mit israelischem Pass, die zwischen Palästina, Deutschland und Grossbritannien lebt. Aehnlich wie die neueren afrikanischen AutorInnen, die überall zu Hause sind und zig Sprachen sprechen und an Universitäten lehren. Im ersten Teil des kurzen Romans beschreibt sie distanziert und sachlich ein Verbrechen aus dem Jahr 1949. Im Negev töten israelische Soldaten eine Beduinengruppe, ein Mädchen nehmen sie mit, missbrauchen es und bringen es anschliessend um. Die Ich-Erzählerin ist von dieser Geschichte berührt, weil die Tat genau an ihrem Geburtstag vor 50 Jahren geschah. Sie macht sich auf, um die Geschichte vor Ort zu recherchieren. Der Schauplatz ist immer die glühend heisse und leere Wüste. Sehr lesenswert. Shibli ist eine 1974 geborene Palästinenserin mit israelischem Pass, die zwischen Palästina, Deutschland und Grossbritannien lebt. Aehnlich wie die neueren afrikanischen AutorInnen, die überall zu Hause sind und zig Sprachen sprechen und an Universitäten lehren. Im ersten Teil des kurzen Romans beschreibt sie distanziert und sachlich ein Verbrechen aus dem Jahr 1949. Im Negev töten israelische Soldaten eine Beduinengruppe, ein Mädchen nehmen sie mit, missbrauchen es und bringen es anschliessend um. Die Ich-Erzählerin ist von dieser Geschichte berührt, weil die Tat genau an ihrem Geburtstag vor 50 Jahren geschah. Sie macht sich auf, um die Geschichte vor Ort zu recherchieren. Der Schauplatz ist immer die glühend heisse und leere Wüste. Sehr lesenswert.
7. Juni 2022
Sie sollte eigentlich die Legende vom „Kolibri“ fürs Kinder-Theater adaptieren, es ist dann ein wenig anders gekommen. In der Legende fliegen die Vögelchen mit dem Wasser, das sie in ihrem Schnabel transportieren können, um den Waldbrand zu löschen. In der Geschichte von Dusapin geht es um Célestin, der mit seinen Eltern vom ins Innere des Landes in die Stadt ziehen muss. Célin, der zurückbleibt (stirbt?), kehrt zu ihm zurück, denn er kann nun fliegen und bringt ihm einen Kolibri, der vorerst völlig erstarrt ist. Mit seiner Nachbarin Lotte wird das Vögelchen aufgepeppelt. Hélène Becquelin hatte für die visuelle Gestaltung freie Hand.
6. Juni 2022
Von einem französischen Historiker geschrieben. Das ist insofern interessant, als dass Frankreich sich zuerst einen Platz an der Konferenz erkämpfen musste, schliesslich kam ja zusammen, um die Teile Europas wieder zusammen zu setzen, die Napoleon durcheinander schüttelte. Jetzt sass er vorläufig auf Elba und seine Gegner hatten für eine Zeit Ruhe. Historische Vergleiche hinken immer, aber sooo viel hat sich seit 1815 auch nicht verändert. Es regieren zwar nicht mehr die Fürstenhäuser, aber die Rolle Russlands hat sich nicht so sehr verändert…, auch nicht jene Frankreichs, auch nicht jene Preussens, auch nicht jene Grossbritanniens, die sich für den Kontinent nur bedingt interessierten, Hauptsache, man lässt sie auf dem Meer und in den Kolonien machen. Die Schweiz hatte irgendwie Glück. Ihre Vertreter haben sich in Wien zwar unmöglich benommen, aber kein Land hat sich seit 1815 so sehr an die neuen Grenzen so unverändert behalten können. Damals wurde auch die Flussschifffahrt reguliert, so wie sie jetzt noch gilt. Auch diplomatischen Gepflogenheiten wurden damals reguliert, so wie sie en gros noch immer gelten. Die Engländer haben immerhin durchgesetzt, dass der Sklavenhandel abgestellt wird. Das hat den Freunden auf dem Kontinent gar nicht gefallen und sie haben sich enorme Uebergangsfristen ausbedungen (also es ging erst um den Sklavenhandel, die Sklaverei selber abschaffen hat nochmals gedauert). Napoleon hat es ja dann in dieser Zeit nochmals probiert. Bei Waterloo war dann am 18. Juni 1815 definitiv Schluss und man hat ihn zur Sicherheit auf eine ein bisschen weiter gelegene Insel gebracht.
10. Mai 2022
Manger ist einer der zahlreichen Schriftsteller aus Czernowitz (heute Ukraine). Diesen Roman hat er in Bukarest geschrieben, wohin er vor den Nazis geflohen ist. Manger schrieb jiddisch: Dos Buch fun Gan Eden, heisst es im Original. Das Buch vom Garten Eden. Manger geht von einem Midrasch-Text aus, der erzählt, dass die Kinder vor ihrer Geburt im Paradies lebten. Von diesem Paradiesleben erzählt seinen Eltern und Nachbarn Schmuel Abe Aberwo. Normalerweise erinnern sich die Kinder nicht ans Paradies, weil ihnen vor der Geburt von einem Engel ein Nasenstüber verpasst wird, der sie alles vergessen macht. Schmuel gelingt es, dem Nasenstüber zu entkommen und kann also berichten. Das Paradies ist eigentlich wie unsere Welt, es gibt da Gute und Böse, Ungerechtigkeit und Liebe. Allerdings, alle sind Engel, haben also Flügel und wenn man sehr verzweifelt ist, kann man sich nicht das Leben nehmen. Schmuel treibt da mit seinem Freund Pisserl so seine Spässe mit den Zaddikim. Das ganze biblische Personal kommt vor, von Abraham bis zum König David, der seine Frau betrügt. Eine tragende Rolle spielt der „Messias-Stier“, der schon seit Jahrtausenden gemästet wird und bei der Wiederkunft des Messias geschlachtet werden soll. Der haut mal ab und schafft es ausgerechnet ins christliche Paradies. Nicht einfach, das Tier von diesen Antisemiten wieder zurück zu bekommen. Es gibt auch ein türkisches (muslimisches) Paradies. Von dort kommen Schausteller, die stehlen. Eine sehr kurzweilige, witzige Geschichte, die Salcia Landmann (die Mutter vom Valentin!) übersetzt hat.
10. Mai 2022
Ein Verbrechen wird zwölf Mal erzählt, aus zwölf Perspektiven, von zwölf Personen. Das ist alles kunstvoll verwoben und am Schluss wartet noch eine zünftige Ueberraschung. Das Ganze spielt auf dem Dorf, eine Art huit-clos. Eine himmeltraurige Geschichte.
„Das war das Gute am Dorfleben.
Jeder passt hier auf jeden auf.
Das war auch das Schlechte am Dorfleben.“
9. Mai 2022
Moskau in den 1930er Jahren: Berlioz, Chefredakteur einer Literaturzeitschrift, und der junge Lyriker Besdomny treffen sich an einem warmen Frühlingsabend auf dem Patriarchenteichboulevard und beginnen eine angeregte Diskussion über Jesus. Da spricht sie ein mysteriöser Fremder an, der später auf sehr unterschiedliche Weise beschrieben wird - ein Ausländer, der sich Voland nennt und sich als Professor für schwarze Magie ausgibt. Sie reden über Pontius Pilatus und die Verurteilung Jesu von Nazareth. Allerdings handelt es sich bei Voland keineswegs um einen gewöhnlichen Ausländer, sondern um den Teufel höchstpersönlich. Mit Volands Erscheinen geschehen in Moskau viele absonderliche Dinge, etwa während seiner öffentlichen Auftritte als Zauberkünstler, meist zusammen mit dem Gehilfen Behemoth, einem riesigen Kater. Die offiziellen Stellen versuchen die Verwirrungen naturwissenschaftlich zu erklären, wobei etwa Hypnose für alles verantwortlich gemacht wird.
Die Sowjetunion hatte sich unter Stalin zu einem totalen Überwachungsstaat entwickelt. Die Bürokratie ließ das Land zu einer riesigen Groteske erstarren. Man muss wissen, dass die Bevölkerung und mit ihr auch möglicherweise Bulgakow nicht Stalin für den Schuldigen an den Zuständen im Lande hielt, sondern ebendiese Bürokraten.
27. April 2022
Rose Ausländer wird 1901 in Czernowitz, in der damaligen k&k Monarchie geboren (heute Ukraine), damals eine Vielvölkerstadt. 1941 besetzte die SS Czernowitz, 55.000 Czernowitzer Juden wurden hingerichtet, Rose Ausländer überlebte, floh vor den Sowjets nach Bukarest, später in die USA und schrieb zuerst nur in Englisch. Während viele ihrer ins Exil getriebenen jüdischen und deutschen Dichtergefährten in Verzweiflung verfielen, schrieb sie, um zu überleben. In 70 Jahren hat Ausländer 3.000 Gedichte geschrieben, davon wurden 2.500 veröffentlicht. Ueber Czernowitz schrieb sie: «Der Spiegelkarpfen / in Pfeffer versulzt / schwieg in fünf Sprachen».
1957 trat sie eine Europareise an und traf in Paris Paul Celan, den sie aus Czernowitz kannte und der sie zu einer radikalen Änderung ihres Schreibstils anregte.
Ab 1972 lebte sie in Düsseldorf und erklärte sich 1978 als bettlägerig. Sie starb 1988.
„Ich verzichte / Nicht / auf Blumen und Musik / auf meinen Zorn / über das Hungern /
Tausender / auf das Lächeln eines Menschen / auf harte und zarte Worte / auf das Da-Sein / in einer unfassbaren Welt / Ich verzichte gern / auf den Tod / der nicht auf mich verzichtet.“
22. April 2022
Ist Adichie nun eine afrikanische oder eine amerikanische? Chimamanda Ngozi Adichie verließ Nigeria mit 19, um in den USA zu studieren, und teilt ihre Zeit nun zwischen den beiden Ländern auf. Sie gehört zu jenen Autorinnen, die gute Ausbildungen genossen haben und überall auf der Welt zu Hause sind, denn sie können es sich auch leisten. Also nicht mehr jene Autoren, die etwa afrikanische Traditionen zelebrieren. Ihre Heldin wuchs in Nigeria auf, kämpfte um ein Stipendium in den Vereinigten Staaten und denkt jetzt darüber nach, in das Land zurück zu kehren. Aber vorerst wird noch amerikanischer Rassismus fein geschildert. Unterschieden wird nicht nur nach schwarz und weiss, sondern auch nach nichtganzweiss und nicht ganz schwarz, und latinoschwarz und amerikanisch-schwarz und afrikanisch-schwarz. Bei schwarzen Frauen kommt noch das Thema der Haartracht hinzu. In einem Blog, den Ifemelu führt, so heisst die Heldin, erwähnt sie diesbezüglich mal Michelle Obama:
„Eine weisse Freundin und ich sind Groupies von Michelle Obama. Neulich sagte ich zu ihr – ich frage mich, ob Michelle Obama Attachements eingearbeitet hat, ihr Haar sieht voller aus, und das heisse Glätten jeden Tag muss es schädigen. Und sie sagt – du meinst, ihr Haar wächst nicht so? Liegt es an mir, oder ist das die perfekte Metapher für Rasse in Amerika? Haare. Schon einmal eine Stylingsendung im Fernsehen gesehen? Auf dem hässlichen „Vorher“-Bild hat die schwarze Frau natürliches Haar (wüst, spiralig, kraus oder lockig), und auf dem hübschen „Nachher“-Bild ist es glatt, nachdem es jemand mit einem heissen Stück Eisen versengt hat.“ Nicht zufällig beginnt der Roman in einem Coiffeursalon. Ifemelu kehrt dann tatsächlich nach Lagos zurück, in ein Milieu, wo man auch in London und New York ist, wo man Geld hat und wo es kein Thema ist, wie man dazu gekommen ist. Hat mir Regula Renschler geschenkt.
4. April 2020
Wir sind im Irak der späten achtziger und der neunziger Jahre. Es herrscht Krieg, Armut, Angst. Die Eltern ziehen mit Sohn und Tochter vom ländlichen Süden nach Bagdad und landen dort in einem Slum. Shams, der Sohn, ein Teenager, entdeckt die Welt der Bücher und das ist sein Untergang. Ein Kriegs- und Bildungsroman.
23. März 2022
Kazimira bringt ihrem Mann Antas angeschwemmten Bernstein vom Strand jenseits der Düne. Wir befinden uns an einem abgelegenen Ort am Baltischen Meer am Ende des 19. Jahrhunderts. Antas dreht aus dem Bernstein Figuren. Bald kommt aber der Untertagabbau in die Gegend, der alles verändert. Erzählt wird die Geschiche vom Aufstieg und vom Fall der „Annagrube“ mit sehr vielen Seitensträngen. Geschichte des Bernsteinabbaus, Antisemitismus in Ostpreussen, Emanzipation der Frau, amerikanisches Exil, deutsches Kaiserreich, viele Einzelschicksale über vier Generationen. Auch das ein Tipp von Dieter Kohler.
21. März 2022
Wiedermal die Apokalypse gelesen. Wir wissen ja nicht, was der Johannes auf Patmos da geraucht hat, als er das geschrieben hat, wir wissen auch nicht ob er überhaupt der Autor ist oder in welchen Teilen, aber der Text ist ganz grossartig und alle Fantasy-Autoren könnten sich da eine Scheibe abschneiden. Die vielen (vor allem amerikanischen) Prediger bedienen sich ja hemmungslos in diesem Text, um den Leuten Angst einzujagen, dabei weiss kein Mensch so richtig, was wir aus dieser Apokalypse lernen sollen. Die Engel, die da Regie führen, stelle ich mir gewaltig vor, die 24 Aeltesten sitzen da und kommentieren ab und an die Ereignisse, die Könige und Herrscher kommen alle furchtbar dran und der Teufel wütet ein letztes Mal. Es soll damals mehrere solche Apokalypsen gegeben haben, aber die Schriftgelehrten haben diese für den Kanon der Heiligen Schriften ausgewählt und die anderen für apokryph erklärt. Dafür, dass sie wahrscheinlich auch nichts verstanden haben, haben sie sehr guten Geschmack bewiesen.
3. März 2020
„Der Regen hat aufgehört, der Nebel hat sich ins Tal gesenkt, wie übergekochte Milch. Pascha schaut auf die Stadt und sieht sie gar nicht. Sieht nur eine schwarze Grube, über der grosse schwarze Rauchschwaden wehen wie Drachen mit langen Schwänzen. Als würden Seelen aus der Stadt herausgepumpt. Und als klammerten sich diese Seelen, schwarz und bitter, an den Bäumen fest, krallten sich mit ihren Wurzeln in die Keller. Weit entfernt, auf der anderen Seite der Stadt, lodert etwas, breitet sich über den Horizont aus wie feurige Lava, die aus der Erde fliesst. In der Stadt selbst sind Maschinengewehrsalven zu hören, aber nur noch vereinzelt, das war’s wohl für heute, Bettgehzeit.“ So geht das über 300 Seiten. Die Geschichte ist schnell erzählt: Pascha holt den Sohn seiner Schwester, die Nachtzugschaffnerin ist, im Internat ab und bringt ihn nach Hause. Unterwegs: Schnee, Regen, Matsch, Kälte, Nebel, Schüsse, Verstecke, Blut, Grenzen, Soldaten, Angst und nochmals Angst. Serhij Zhadan lebt (wenn er noch lebt) in Charkiv, im Gebiet Luhansk geboren. Ein ausgezeichneter Autor. Er ist schon mit früheren Büchern aufgefallen, etwa mit „Die Erfindung des Jazz im Donbass“. Er ist auch Musiker, wie sein Freund Juri Andruchowytsch aus Iwano-Frankiwsk, im Westen der Ukraine. Er war mehrmals in der Schweiz. Von ihm etwa „Moscoviada“ oder die Essays mit dem Polen Andrzej Stasiuk über Europa („Mein Europa“) oder „Engel und Dämonen der Peripherie“. Und wenn wir schon dabei sind: der 800-Seiten-Roman von Oksana Sambuschko „Museum der vergessenen Geheimnisse“, in dem sie mit den Geschichtsverklärern im Land hart ins Gericht geht, etwa mit den Anhängern von Bandera (aber die sind im Moment verständlicherweise kein Thema). Und vor allen, immer wieder Bruno Schulz „Die Zimtläden“. Er hat polnisch geschrieben und ist von der SS in Drohobytsch (bei Lemberg) erschossen worden.
15. Februar 2022
So, jetzt nimmt sich die Literaturwissenschaft des schreibenden Bauers aus dem Berner Jura an, Professoren und Psychoanalytiker analysieren seine Texte und denken über sie nach. Ein Pariser Verlag gibt das heraus. Das Bild auf dem Cover hat Frédéric Pajak gezeichnet, von ihm gibt es auch einen Text zu Rochat (von Pajak gibt es mittlerweile auch zwei Bücher auf deutsch). „Bien après les jours et les saisons, et les êtres et les pays“ stammt von Arthur Rimbaud, einem Lieblingsautor von Jean-Pierre Rochat.
15. Februar 2022
Was ist es nun eigentlich ? Ein Roman ? ein Essay? eine Reportage? Egal, alles zusammen. Ayad Akhtar ist ein erfolgreicher Theaterautor, amerikanischer Autor überhaupt. Die Geschichte einer pakistanischen Familie, die in die USA einwandert. Der Vater, ein sehr gefragter Herzspezialist, der auch Donald Trump behandelt und bewundert. Dann kam 9/11 und plötzlich sieht man in ihnen Muslime, gefährliche Muslime. Wie sieht eine westliche muslimische Identität aus? Wie eine amerikanische? Liest sich in einem Schnurz.
4. Februar 2022
Schahrnush Parsipur sass während des Schah-Regimes und auch später während der islamischen Republik immer wieder im Gefängnis. Sie lebt heute in den USA und alle ihre Werke bleiben im Iran verboten. Der Roman spielt in den letzten 80 Jahren vor der islamischen Revolution 1979. Das Buch ist zum Teil im Gefängnis entstanden, 1989 erschienen, deutsch 1995. Die Heldin des Romans, Tuba, ist nach dem mythischen Baum benannt, der im Paradies steht und den Häusern des Propheten und der Gläubigen Schatten spendet.
Tuba ist ein aufgewecktes, gescheites Kind, arrangiert ihre eigene Ehe mit dem Neffen des Vaters, einem alten Mann, um das Gesicht ihrer Familie zu wahren, lässt sich bald scheiden, heiratet einen Prinzen, eine weitere Katastrophe. Eine Zeit, in der die Menschen, die Frauen insbesondere von Patriarchat und Fundamentalismus niedergehalten werden. Und immer wieder Befreiungsversuche über all die Zeit. Tuba selber wird dabei immer verschlossener und schlägt sich auch auf die konservative Seite. Da taucht dann mal auch in den 50ern Mohammad Mossadegh auf (der hat in Neuenburg dissertiert). Den haben die Amerikaner auf dem Gewissen, sie sahen in ihm einen Kommunisten, weil er die britische Oelgesellschaft verstaatlichen wollte. Die USA stärkten den Schah und seine Leute. Tuba schwärmte für Hitler. Eine Tochter von Tuba nimmt sich die algerische Bombenlegerin Dschamila Bouhired zum Vorbild (sie wurde später die Frau vom Anwalt Jacques Vergès). Auf den letzten Seiten des Romans kehrt alles in eine fantastische Welt, in der viel Blut fliesst und nichts gut wird.
1. Februar 2022
Der Titel ist Programm: Gemeint ist der Obsidian- Spiegel des aztekischen Kriegsgottes Tezcatlipoca (der Name bedeutet „Der rauchende Spiegel“). In diesem dunklen Vulkanglas sahen die aztekischen Seher die Zukunft. Fuentes' Spiegelmetapher bezieht sich im weiteren Sinne auch auf den Spiegel als Instrument der Selbstbespiegelung, als Möglichkeit, die eigene Identität zu sehen. Der Eroberer Cortés hat nicht nur Indios getötet, sondern auch die Ueberlebenden und Nachkommen ihrer Identität beraubt. Der Untertitel „Die Geschichte der hispanischen Welt“ würde wohl besser „Essay über die hispanische Welt“ heissen. Denn wäre der „Vergrabene Spiegel“ als Geschichtsbuch konzipiert, dürfte man doch etwas mehr Sozial- und Wirtschaftsgeschichte erwarten. Insofern ist es ein Geschichtsbuch des 19. Jahrhunderts, mit dem ganz groben Pinsel gemalt, Herrscher, Künstler, Maler. Allerdings grossartig, es liest sich leicht und für mich, der ich gar nichts von Südamerika weiss, eine gute Einführung (Dominik Landwehr hat es mir geschenkt!).
Fuentes spannt also den Bogen von den Keltiberer über Cervantes, Goya, Simón Bolivar bis hin zu Jorge Luis Borges. Die grossen Bogen haben auch einige Vorteile. Z.B. kann er zeigen, dass mit der „Entdeckung“ Amerikas nicht nur die Europäer ein neues Land mit neuen Kulturen entdeckt haben. Auch umgekehrt gilt, dass die amerikanische Bevölkerungen durch die „Entdeckung“ der Europäer ein neues Weltbild gefunden haben. Die gemeinsame Geschichte Europas und Amerikas sei geprägt von der jeweiligen Suche nach einem Ort, an dem sich utopische Gesellschaftssysteme verwirklichen lassen. Er führt auch wichtige Ereignisse in einem Datum zusammen, z.B. 1492 nimmt das Königspaar Isabella und Ferdinand Granada ein, vertreiben die Muslime aber auch die Juden, schicken Columbus über die Meere um den Seeweg nach Indien zu finden – und Antonio de Nebrija verfasst die erste Grammatik der spanischen Sprache. An anderer Stelle greift er tief in die Kiste der Völkerpsychologie: „Das grosse Paradox lag darin, dass Unpünktlichkeit, Trägheit, aristokratische Genusssucht und angeborene Korruption der vielleicht tatkräftigsten Nation der Nach-Renaissance zugeschriebenen wurden. Obwohl Spanien als Nation weniger gut organisiert war als Frankreich unter den Kardinälen Richelieu und Mazarin, das im Jahre 1643 das spanische Heer bei Roicroi endlich ein für allemal besiegte, und weniger schlau als die Engländer, die Spanien jeder Hoffnung beraubten, die Seeherrschaft nach dem Desaster ihrer Armada jemals wiederzuerlangen, war Spanien tatkräftig über alles hinaus, was man seit den Tagen Roms zu sehen bekommen hatte.“ Und manchmal destilliert er auch Stammtischmässiges aus der Geschichte: „Wir alle sind manchmal Heldengestalten wie Don Quijote, aber meistens leben wir ein Schelmenleben wie Sancho Pansa.“
8. Januar 2022
Die Kapitel sind nach einem Zitat von Camus von 1951 eingeteilt: „Antwort auf die Frage nach meinen zehn bevorzugten Wörtern: „Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.““ Diese Einteilung passt zum Untertitel: „Das Ideal der Einfachheit.“ Camus wird 1913 in sehr armen Verhältnissen als Algerien-Franzose geboren. Der Vater stirbt im Ersten Weltkrieg, der Junge wächst mit einer apathischen Mutter auf, die er zeitlebens als eine Heilige verehren wird. Verehren wird er auch immer seinen ersten Lehrer, der ihn in die Sprache und in die Kultur der Kolonialisten einweisen wird. Camus wird sich nie von der Idee eines französischen Algeriens trennen können. Iris Radisch recherchiert sehr genau und kann auch viel aus Unveröffentlichtem zitieren. Was der junge Camus so schrieb, ist recht schwülstig geraten. 1940 siedelt er nach Paris über, wo er sich immer fremd gefühlt hat. Hier entsteht auch „Der Fremde“, während in Paris die deutschen Truppen einmarschierten. Das geht an ihm vorüber. Er wird auch später nie ein Wort zu Auschwitz verlieren. Nachdem er das Absurde als Grundbedingung des Seins beschrieb, drückt er in „Die Pest“ doch den Willen zum Widerstand aus. Mit seinem Text „Mensch in der Revolte“ zog er sich definitiv die Verachtung Sartres zu, dem sich die meisten Pariser Intellektuellen anschlossen. Dabei, so Radisch, habe die Geschichte Sartre Unrecht gegeben. Und Camus in allem bestätigt, auch für seine Wachstumskritik und auch für sein Eintreten für ein vereinigtes Europa.