Volker Ullrich: Schicksalsstunden einer Demokratie. Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik.

16. November 2024Wie kam Hitler an die Macht? Ullrich beginnt die Geschichte am Ende des Ersten Weltkriegs. Und das ist notwendig. Schrittchen um Schrittchen schlittert die junge fragile Demokratie ins Verderben. Erschreckend und fast nicht zum Aushalten, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen rund um uns und in den USA. Optimist wie er ist, meint er, das Scheitern wäre aufzuhalten gewesen.


Isabelle Guisan: ça remue encore

16. November

Chère Isabelle,

Quel beau livre ! Tu es une excellente éditrice ! J’ai lu livre il y a plusieurs semaines maintenant et il résonne encore. Une prochaine fois, le monsieur qui jeûne avec toi remarquera non seulement la Ausstrahlung, mais il trouvera aussi que tu es schonungslos avec toi.  J’ai eu le temps maintenant de découvrir, que l’on m’a considérer pendant ma vie professionnelle comme très cool et on m’a confié des émissions live. Et en effet, je suis resté calme et je maîtrisait les situations difficile. Aujourd’hui je sais, que j’étais très inquiet, avant et pendant. Mais on ne l’a pas remarqué. Aujourd’hui je me rends compte, que j’angoisse avant et pendant des voyages. Même rester seul à Raimeux m’angoisse. Je me rappelle, qu’étant jeune, l’école m’angoissait, même passer devant une école m’a coupé pour des heures tout appétit (et je suis devenu enseignant…).  Petit garçon, une autre re-découverte, j’ai fait longtemps pipi au lit au point que l’on a pas risqué de m’envoyer en colonie de vacances.  Ton texte a mis en route ces recherches et réflexion. Mais en plus, j’ai bien aimé ces phrases, parfois aphoristiques, tes réflexions, schonungslos, gnadenlos ? de femme. De notre âge. Alors, un tout grand merci pour ce texte !

 

Martin


Irène Némirovsky: Suite française

15.9.2024

Frankreich unter der deutschen Besatzung. Wie man sich arrangiert. Die Autorin kam nach Ausschwitz. Das Buch erschien erst in den 50er Jahren. Ihre Töchter haben sich und das Manuskript gerettet. 


Frédéric Martel: Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan

15. September 2024

Martel ist Soziologe, schwul und Atheist. Er hat jahrelang an dieser Studie gearbeitet. Also: rund 80 Prozent der Männer der Kurie sind schwul. Weil sie als junge Männer schwul waren, sahen sie im Priestertum einen Ausweg aus der schwulenfeindlichen Welt in ein Milieu, das Schwulsein duldete, wenn es diskret gelebt wird. Und Schwule kooptieren Schwule. Aber warum ist denn die Kurie so schwulenfeindlich gegenüber ihren Schäfchen? Sie wollen ihre Position nicht gefährden. Wenn alle locker schwul sein dürfen, was wird dann aus ihren Privilegien? Ein weiterer Aspekt: Schwulsein hat eine sehr lange Tradition in der Kirche. Nur hiess das noch nicht Homosexualität, sondern Männerfreundschaft. Frauenfeindlichkeit allemal. Und grosse Liebe für Faschismus.


Franz Kafka: Die Verwandlung

15. September 2024

Hatte ich noch nie gelesen. Musste also mal sein. Und mit Gewinn. 


Phillippe Collin: Le barman du Ritz

24. August 2024

Die Geschichte vom Ritz, von der Bar und dem Barman während des Zweiten Weltkriegs. Die Anbiederung an die Besatzungsmacht, an Petain, gleichzeitig verdeckte Aktionen, um befreundete Juden zu retten und dann die Angst vor den Allierten. Wie werden sie sie beurteilen? Der Barman selber ist Jude und (fast) niemand weiss es. 


Szczepan Twardoch: Kälte

24. August 2024

Das fängt mit dem Leben im Goulag an, voller Grausamkeit, aber immer auch leicht märchenhaft. Und es geht weiter mit der Flucht, ebenso grausam, mit der Begegnung mit einer anderen Geflüchteten, grausam und skuril. Schliesslich werden sie von Vertretern einer erfundenen Volksgruppe aufgenommen, leben mit ihnen, warnen sie vergeblich vor den Russen, die sie entdecken werden, was ihr Ende bedeutet. Alles eingpackt in eine witzige Rahmenerzählung: der Autor begegnet einer älteren Frau, die mit einem Segelschiff unterwegs ist. Sie gibt ihm ein Manuskript zu lesen, das die Geschichte erzàhlt. Ja, und alles spielt hoch im Norden, Schnee und Eis und kalt. 


Fred Vargas: Debout les morts

24. August 2024

Die Ermittler sind Studenten, die sich ein altes Haus herrichten und die Nachbarn im Auge haben. Und sie heissen wie die Evangelisten und einer von ihnen hat einen Patenonkel, der mal bei der Polizei war. Und der Fall? Ja, das geht um zig Ecken.

 


Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord

12. August 2024

Ein Gentleman rutscht aus und geht über Bord. Niemand bemerkt es und er bleibt auch im Wasser noch anständig und brüllt nicht um Hilfe. Die werden mich schon wieder rausfischen. Das Schiff fährt aber weiter und die Hoffnung stirbt zuletzt.


Fred Vargas: L'homme à l'envers

12. August 2024

Der Krimi spielt in den französischen Alpen. Schafe sterben und Menschen sterben. Ein Wolf? Ein Werwolf? Ein abgerichteter Wolf? Ein Mensch - aber wie tötete er?


Marc-Uwe Kling: Views

12. August 2024

Drei Tage nach dem Verschwinden der sechzehnjährigen Lena Palmer taucht ein brutales Video im Internet auf, das sofort viral geht. Die BKA-Kommissarin Yasira Saad wird mit dem Fall betraut und sucht zusammen mit ihrem Team fieberhaft nach dem vermissten Mädchen sowie den Tätern. Gefakte Bilder spielen eine wichtige Rolle.


Herta Müller: Atemschaukel

12. August 2024

Eigentlich wollte ihr Freund, der Jahre in einem Lager verbrachte seine Erinnerungen mit ihr aufschreiben. Während der Arbeit ist verstorben und Herta Müller hat das Buch dann alleine geschrieben. Furchbares Lagerleben, furchbares Leben nach dem Lager im Dorf.


Alhierd Bacharevic: Europas Hunde

12. August 2024

Der weissrussische Autor hat hier sechs Romane aneinandergefügt, die nur an dünnen Fäden, wie zufällig, zusammenhalten. Geschichten, die gerne ins Absurde und ins Phantastische kippen. In der ersten erfindet einer eine neue Sprache, deren Vokabular ist dem Buch in einem Heftchen beigefügt.Belarus und Russland erscheinen in einem endzeitlichen Zustand. 


Patrik Svensson: Die Chronistin der Meere

12. August 2024

Das ist eine Art Evolutionsgeschichte, erzählt anhand von ForscherInnen-Porträts.

 


Christos Nüssli: Atlas historique des pays romands

3. Juli 2024

Alle hundert Jahre eine Karte der Landschaft, die heute die französische Schweiz bildet. Auffällig, wie viele Grenzziehungen in der Vergangenheit unsicher sind oder nicht bekannt. Wo verliefen genau die Grenzen des Burgunderreiches, wo jene der Savoyarden? Bümpliz war viele Jahrzehnte so wichtig, dass es auf der Karte erwähnt wird!


Patrik Svensson: Die Chronistin der Meere

3. Juli 2024

Eine gut erzählte Geschichte des Planeten mit einigen schönen Porträts von Pionierinnen und Pionieren der Naturforschung und des Naturschutzes.


Umberto Eco: Nullnummer

3. Juli 2024

Es geht um eine Nullnummer einer Zeitung. Ein reicher Verleger gibt sie in Auftrag. Der hat aber nicht die Absicht, dass die Zeitung überhaupt mal erscheint. Eine Art Journalisten-Krimi in Mailand, aus einer Zeit als Papierzeitungen noch ein Thema waren.


Alex Capus: Das kleine Haus am Sonnenhang

3. Juli 2024

Capus erzählt von einem Ferienhaus in der Toskana, wo man sich mit Freunden trifft, wo man sich in der Dorfbeiz rumtreibt, wo ihm der Ofen geklaut wird, wo er an seinem ersten Roman schreibt. Mit Ausflügen in Gedanken zum Schreiben, Alltagsphilosophien zu Leben, Liebe und Tod.

 


Ueli Mäder: Mein Bruder Marco

26.6.2024

Ueli Mäder schreibt über seinen älteren Bruder, den er immer bewunderte. Dieser ist blitzgescheit, macht tolle theologische Studien, die er aber nie abschliesst. Er ist gleichzeitig sehr mit den Ideen von 68 befasst und Dienstverweigerer. Allmählich versinkt er im Alkohol. Das Buch ist auch eine Art Autobiografie von Ueli Mäder, der viel über sich verrät. Auch darüber, wie der emeritierte Soziologieprofessor alles unter soziologischen Aspekten analysieren und rezipierte Literatur zitieren muss.


Albert-Louis Chappuis: L'affaire Héli Freymond

26. Juni 2024

Zum letzten Mal hat man 1868 einen Menschen in der Schweiz geköpft. Weil man in der Gegend keinen Scharfrichter mehr hatte, musste man den vom Kanton Uri, Vincent Grossholz, kommen lassen. Héli Freymond wurde in Moudon hingerichtet, 20'000 Menschen wollten zusehen. Nach dem Schwerthieb stürmten die Menschen das Schafott, um den abgeschlagenen Kopf zu sehen. Héli hatte eine Geliebte ohne Geld, heiratete deshalb eine mit Geld, brachte sie mit Hilfe der Geliebten zu Tode, weil sie hoffte, nun geehelicht zu werden. Aber nix da, er heiratete die reiche und schöne Schwester seiner Frau, die er vergiftete. Albert -Louis Chappuis war ein erfolgreicher Bauerndichter und macht die Geldgier der Familie von Héli für das verbrecherische Tun des Sohnes verantwortlich.


Anouk Hutmacher: Silence, on ferme!

30. Mai 2024

Ein weiteres Buch zur Landwirtschaft. Blaise Hofmanns « Faire paysan » ist immer noch sehr erfolgreich und ist auch deutsch erschienen. Anouk Hutmacher bezieht sich auf ihn. Sie ist eine Genfer Soziologin, die einen Bauern geheiratet hat. Ihre Chroniques sind aber fiktive Berichte aus dem Bauernleben. Sie erzählen vom Paar der linken Soziologin und des SVP-wählenden Mannes, von den Kindern, von der Milchwirtschaft. Natürlich von den Schwierigkeiten, von der Geringachtung, von Hoffnungslosigkeit. Allerdings kommt sie auch mit Clichées und Verallgemeinerungen, die eher ärgerlich sind: Die Bauern tragen Sorge zu ihrem Land, es ernährt sie ja (DIE Bauern?).  Die in Bern oben in ihren Büros, die keine Ahnung haben (pfff). Dann auch: Ein neuer Stall wird gebaut, die Kühe ziehen um, die Autorin bedauert, dass sie den warmen heimeligen Stall verlassen und in den kalten Stall ziehen und sich mühsam dem anonymen Melkroboter unterwerfen müssen (grad bisschen viel Anthropomorphismus). Dass einer Soziologin dann als Ausweg aus der Krise nur in den Sinn kommt, man solle doch auf dem lokalen Markt und nicht im Grossverteiler einkaufen, ist doch ein bisschen dünn. 


Pierre Assouline: Le Dernier des Camondo

27. Mai 2024

Edmund de Waal hat im Buch: „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ von seinen Vorfahren, den Ephrussi erzählt. Von ihrem Leben in Saus und Braus in Paris und in Wien. Hermmungslos schilderte er vom grossen Reichtum seiner Vorfahren. Zeigte aber auch, wie die Familie trotz allem nie so richtig in der Gesellschaft angekommen ist, weil sie Juden waren. Und wie sie schliesslich getötet wurden. Das Buch wurde ein Bestseller, die Gemeinde Wien hat es 100‘000 mal verschenkt. Wahrscheinlich bevor sie realisierten, dass sich de Waal allerhand dichterische Freiheit herausgenommen hat, gerade in der Wiener Geschichte, wo er kurzerhand ein christliches Dienstmädchen erfindet, das den Hasen mit den Bernsteinaugen und dessen japanischen Knopfkollegen, vor dem Zugriff der Nazis rettete.

Edmund de Waal kam in einem weiteren Buch auf die reichen Juden in Paris zurück und stellte in Form von fiktiven Briefen die Camondos vor. Und wieder ging es um viel Pracht und Kunst und um ein Ende mit Schrecken.

Pierre Assouline nun hat eine grosse historische Arbeit zu den Camondos vorgelegt. Eine Familiensaga von der Flucht aus Spanien über Thessaloniki, Venedig  nach Paris und die Vernichtung durch die Nazis. Assoulines Familie ist ebenfalls 1492 aus Spanien vertrieben worden. Er ist in Casablanca aufgewachsen. Er erzählt in erster Linie die Geschichte von Moïse Camondo . Aber damit auch die Geschichte der reichen sefardischen Juden in Paris. Seine Familie gibt es nicht mehr, aber seinen Stadtpalais schon. Es ist heute ein Museum, das den Namen seines Sohnes trägt. Moïse hat dieses Palais bauen lassen, ganz im Stil des 18. Jahrhundert. Alles vom feinsten. Es war eigentlich für seinen Sohn Nessim gedacht, der aber ist im Ersten Weltkrieg umgekommen. Weitere männliche Nachkommen gab es nicht. Noch vor dessen Tod verkehrte alles was Rang und Namen hatte an der rue de Monceau 63, Proust, Renoir and Co.
Die Vorfahren mussten also 1492 Spanien verlassen, sind über Venedig nach Konstantinopel gekommen und wurden die Banquiers des Sultans, die „Rothschild des Orients“. Als den Juden in Frankreich am Ende des Zweiten Kaiserreichs Rechte zuerkannt wurden, zogen die Camondos nach Paris, auf der Suche nach einem „neuen Jerusalem“. So toll wurde es dann doch nicht. Dreyfuss-Affäre und ähnliches. Sie versuchten sich assimilieren, einige durch Bekehrung zum Katholizismus, andere durch gesellschaftliche Integration – die Reiterei, die Jagd, die Kunst. Wieder andere, wie der Journalist und Verleger Arthur Meyer, der sich als eifriger Anti-Dreyfuss Schreiber hervortat. Aber der Antisemitismus war allgegenwärtig, auch für sehr Reichen. Der Reiterclub „Le Jockey“ zum Beispiel nahm ganz offiziell keine Juden auf. Ein paar Rothschilds waren dann doch dabei, aber Moïse Camondo war dann doch zu wenig reich, was vielleicht seine sefardische Jüdischkeit überdecken hätte überdecken können. In einem Louvre-Unterstützungsverein schlug man ihn als Präsidenten vor. Er hat vorsichtshalber abgelehnt, weil die Wahl gegen ihn als Juden ausgefallen wäre. Moïse Camondo ist 1935 gestorben. Er hat sein Palais der Stadt vermacht, mit der Auflage, dass darin nichts verändert werden darf. Er hat nicht mehr miterlebt, wie seine Tochter, obwohl sie zum Katholizismus konvertierte, nach Auschwitz gebracht und getötet wurde.

 

Was ich von de Waal und Assouline gerne gelesen hätte, wie denn diese Rothschild, Pereire,  Fould, de Reinach, de Cahen d‘Anvers und Camondo zu so viel Geld gekommen sind. Welche Bankgeschäfte haben sie reich gemacht? Rohstoffe? Sklaven ? Nur einmal erfahren wir etwas, als die antisemitische Presse den Panama-Skandal aufdeckt,  in den Jacques de Reinach verwickelt war und zahllose Bürger in den Ruin trieb.


Gilles Kepel: Holocaustes

10. Mai 2024

Holocaustes in der Mehrzahl muss man wörtlich verstehen als Massenopfer, die sich muslimische Palästinenser und jüdische Israeli gegenseitig zufügen. Dreiviertel Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Damals teilte man die Welt in West und Ost ein, Warschauerpakt und Nato. Heute steht „der Norden“ dem „globalen Süden“, den BRICS+ gegenüber. In diesem globalen Zusammenhang will Kepel sein Buch sehen. Er schreibt vom 7. Oktober, von den Widersprüchen Israels, von der Geopolitik des Massakers (die regionale Front, Türkei, Qatar, der globale Süden) und die Entrüstung über den Westen. Kepel ist sehr gut dokumentiert, er hat viele arabische Quellen zur Verfügung. Im „Epilogue“ wird dann abgerechnet: Zuerst Josep Borrell (Hoher Vertreter der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik). Er meinte in einer Rede, dass Israel die Hamas „erschaffen“ hat. Das geht doch zu weit, meint Kepel, Israel hat die Ausbreitung nicht verhindert, aber entstanden ist die Bewegung aus den Muslimbrüdern. Er solle doch zuerst vor der eigenen Türe kehren, meint Kepel, die EU habe die Forschung über den politischen Islam zugunsten einer Forschung über die „Islamisierung der Radikalität“ gefördert. Das ist ja das Konzept seines Lieblingsgegners Olivier Roy. Diese Linie habe auch die Muslimbrüder verteidigt. Auf dieser Linie fuhr auch François Burgat, der in diesem Bereich für den französischen Nationalfonds, den CNRS verantwortlich war. Derselbige hat noch am 10. Januar getweetet, dass er unendlich viel mehr Respekt für die Hamas habe als für den Staat Israel. Netanjahu komme zum Schluss, dass Biden nicht aus dem Dilemma zwischen pro und kontra Israel herauskomme und Trump am 5. November den Sieg davon tragen würde. Und er schliesst: „En prélude à l’Armageddon auquel aspirent les belligérants de la Terre Sainte ».


Anne Weber: Bannmeilen

10. Mai 2024

Bannmeile = Banlieue. Es geht um das Département 93, neuf-trois, wie man dort sagt, jene Gebiete, die nördlich des Stadtautobahngürtels von Paris liegen. Eineinhalb Millionen Menschen leben da, alles ist zugebaut, Städte wie Saint-Denis oder Bondy, Bobigny, Drancy und Le Bourget liegen da. Die Zuwanderung ist da besonders gross. Hier wandert die Autorin, die Ich-Erzählerin, mit Thierry, algerisch-französischer Filmemacher, der von sich sagt, dass er „entre deux ailleurs“ lebt. Hier finden bald die olympischen Spiele, neben paar Show-acts im Zentrum von Paris, statt. Eigentlich ist das eine exotische Welt. Etwa die chouffeurs, die in besonders heissen Quartieren mit seltsamen „Gesängen“, gleichsam wie Höhenfeuer, die Ankunft von Gendarmen ankündigen, damit die Dealer Zeit haben, sich zu verdrücken. Oder ein muslimischer Friedhof  hinter einer Sperrmüllhalde. Friedhof, auf dem ein ehemaliger Olympiasieger algerischer Herkunft liegt, dessen tragische Geschichte die Autorin recherchiert hat. Und mittendrin, das heisst beim Flughafen Le Bourget in einem unscheinbaren Gebäude eine absolute Luxusgalerie. Die Superreichen kommen zum Posten halt mit dem Flieger. Oder in Drancy, in der Cité de la Muette, wo 63‘000 jüdische Gefangene auf ihren Abtransport nach Auschwitz warten mussten. In Frankreich spricht man nicht gerne darüber, ebenso wenig wie über die Kolonialherrschaft.  Noch vor den olympischen Spielen werden wir anfangs Juni von neuf-trois hören. Wir werden entsetzt staunen, wie viele Stimmen der rechtsextreme Jordan Bardella bei den Europawahlen gemacht hat. Auch er stammt von dort, aus einer algerisch-italienischen Familie.


Isabelle Aeschlimann: Les secrets de nos coeurs silencieux

21. April 2024

Es geht in diesem populären Roman vor allem um zwei Schwestern, die in der Ajoie aufwachsen. Die ältere mit Epilepsie und Schwerhörigkeit. Ihre Mutter hütet so manches Familiengeheimnis, der Vater wenig inspiriert aber geschäftstüchtig. Diese ländliche Welt steht ganz im Gegensatz zu Berlin, wo später die beiden Töchter sich hinflüchten. Hier sind die Leute lieb und zu vorkommend und Stadtluft macht halt frei. Ein Roman voller Ränke, Wendungen und Überraschungen bis auf die letzte Seite.


Irvin D. Yalom: Das Spinoza-Problem

11. April 2024

Der Buchtitel verweist erstens auf das philosophische Problem, das Spinoza lösen wollte: Wie kann die menschliche Vernunft jene Aufgaben übernehmen, die bisher von der Religion gelöst wurden? Wie kann sie zu einer Leidenschaft werden? Zweitens geht es um das Problem, das manche Juden seiner Zeit mit ihrem Glaubensgenossen – oder: Unglaubensgenossen – hatten. Drittens geht es um das Problem der Nazis. Rosenberg, der an die Überlegenheit der „arischen Rasse“ und die absolute Minderwertigkeit der Juden glaubte, litt darunter, dass Goethe – den er doch für den größten deutsche Dichter aller Zeiten hielt – Spinoza verehrte. Es ist also eine Art Doppelbiografie, wobei Yalom tief in seine psycholanalytische Trickkiste greift.  Von Spinoza weiss man nicht viel, von Rosenberg weiss man zwar, dass er ein ganz vergifteter Nazi war, Chefideologe, der ein Buch verfasste, das nach Hitlers „Mein Kampf“ auf Platz zwei landete.  Man mochte ihn aber an der Parteispitze nicht richtig und er hat darunter gelitten.  Aber von einer Verbindung zu Spinoza ist nichts bekannt, ausser dass er wie Goethe bewunderte, welcher wiederum Spinoza bewunderte. Yalom dichtet also zusätzliches Personal dazu, erfindet psychische Zustände des einen und des anderen. Dabei erfährt man doch einiges über den Nazi und den grossen Philosophen, dem wir Journalisten doch einen wichtigen Leitsatz verdanken (sorry, er hat lateinisch geschrieben): „sedulo curavi, humanas actiones non ridere , non lugere, neque detestari, sed intellegere.“


Witold Szabolowski: Wie man einen Diktator satt bekommt

10. April 2024

Eigentlich haben diese Diktatoren einfach gegessen. Sie liebten das Essen ihrer Kindheit. Sie waren keine reichen Jungs, ausser Fidel Castro, dessen Vater Grossgrundbesitzer war. Von Breschnew, der im Buch nicht vorkommt, wird erzählt, dass er ständig Kaviar und so vorgesetzt bekam. Nach den Empfängen hat er dann in seiner Privatwohnung nach seinem Koch gerufen, damit er ihm Bratkartoffeln macht. Der Autor, selber Koch,  hat noch lebende Diktatoren-Köchinnen und -Köche aufgesucht, sie erzählen lassen und mit ihnen gekocht. Man darf feststellen, dass Diktatoren eigentlich alle anlügen: ihre Bürgerinnen und Bürger, ihre Generäle, ihre Berater, ihre Minister. Sie betrügen ihre Ehefrauen und so weiter. Aber es gibt zwei Menschen, die sie nicht anlügen können: ihren Arzt – denn er sieht zum Beispiel ihre Bluttests – und ihren Koch. Pol Pot war ein besonderer Heuchler. Er hat das Nationalgericht seines Landes abgelehnt und sich stattdessen thailändische Gerichte vorsetzen lassen: Er hat die nationale Revolution blutrünstig durchgeführt, er zwang die Leute, stolze Khmer zu sein, und selber mochte er das Essen seines eigenen Landes nicht. Oder Saddam Hussein: Er hatte die Vorstellung, dass ein Präsident wie ein Vater für seine Kinder kochen sollte. Wenn er also im Krieg gegen den Iran an die Front fuhr, musste der Koch dort so tun, als ob Saddam selbst das Essen für die Soldaten gekocht hätte. Der Reis wurde vorab halb, das Huhn fertig gekocht. Das Einzige, was Saddam tun musste, war, den Reis gar zu kochen, zu würzen und zu servieren. Doch jedes Mal hat er es irgendwie verpatzt.

 

Für einen Diktator zu kochen, ist wie auf einem Minenfeld zu laufen. Ein falscher Schritt, und du konntest tot sein. Der Chefkoch von Enver Hoxha in Albanien übernahm den Posten, nachdem sein Vorgänger ermordet worden war. Der war beschuldigt worden, Hoxha vergiften zu wollen; er wurde ohne Verhandlung aus der Küche zum Erschießungskommando in den Wald geschickt. Der Koch von Idi Amin lernte bei den englischen Kolonialisten kochen, der grausame Diktator liebte diese Küche. Und egal, ob er vor oder nach der Mahlzeit ein paar Landsleute hat umlegen lassen, er hat sich nach jedem Essen bei seinem Koch bedankt. 


Moshe Zimmermann: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg

9. April 2024

Wie immer sehr nüchtern, der israelische Historiker, der sich keinen Illusionen hingibt: „Was ich in diesem Buch anzubieten versuchte, bezeichne ich als konstruktiven Pessimismus“. Er geht mit Deutschland hart ins Gericht. *Israels Sicherheit ist Teil der deutschen Staatsräson“, sagte Angela Merkel 2008 vor der Knesset. Aber was bedeutet das Versprechen? Hätte sich Deutschland, hätte sich die EU, natürlich vor allem die USA nicht vermehrt dafür einsetzen müssen, dass mit den Palästinenser verhandelt wird? Alles was Netanjahu und seine Leute anrichteten, hat man durchgewinkt. Sicherheit Israels aber sind nicht nur U-Boote. Die Unterstützung galt einer rechtsextremen Regierung.

Der 7. Oktober ist für ihn nicht weniger als das Versagen des Zionismus, dessen Ziel es war, „dem jüdischen Volk…eine gesicherte Heimat… zu verschaffen“.

Ausführlich schildert er den Aufstieg der Religiösen, die sich schliesslich mit den Nationalisten zusammentaten, um die Gerichtsbarkeit zu schwächen. Der Vorgang erinnert ihn an Münchhausens Schlittenfahrt. Ein mächtiger Wolf wirft sich auf das galoppierende Pferd, frisst es von hinten her auf und befindet sich schliesslich selber im Geschirr, das den Schlitten zieht.

 

Zukunft. Für Zimmermann gibt es nur die Zweistaatenlösung. Ein jüdischer Staat mit einer palästinensischen Minderheit und ein palästinensischer Staat mit einer jüdischen Minderheit. Eine, sagen wir, sehr israelische Perspektive: Wie muss man sich das vorstellen? 700‘000 jüdische Siedler, die nur ein Gross-Israel im Kopf haben, plötzlich zufrieden in einem palästinensischen Staat, der mit einem Gross-Israel überhaupt nichts am Hut hat. Wie sagt Zimmermann? „konstruktiver Pessimismus“.


Marc Agron: La vie des choses

13. März 2024

Ein sehr erfolgreicher Schriftsteller verliert die Gunst der Leserschaft, der Kritik und des Verlegers. Dann aber, nach Jahren, kommt er mit einem Manuskript, das die Verlagsmitarbeiter in helle Begeisterung versetzt. Mit dem alten Namen können wir das nicht mehr bringen, meint der Verleger, erfindet einen neuen Namen und verpflichtet den Autor, abzutauchen. Was der auch tut und paar Jahre in New York lebt, unter neuem Namen. Schliesslich beschliesst er, auch chirurgisch eine neue Identität zu nehmen. Und kehrt dann nach Europa zurück.

Marc Agron, geboren 1963 in Zagreb, kam mit 19 in die Schweiz, studierte in Neuenburg und führt heute ein Buchaniquariat und eine Galerie in Lausanne.

 


Catherine Lovey: histoire de l'homme qui ne voulait pas mourir

11. März 2024

Eine ganz einfache Geschichte. Der Mann in der Nachbarswohnung erkrankt. Jetzt sind wir manchmal mit der Erzählerin und fragen uns, wie weit geht man als Nachbarin? Wir sind nicht verwandt, wir sind keine Freunde und wollen es auch nicht werden. Und manchmal sind wir mit dem Mann, den die Krankheit immer mehr in Griff bekommt, aber das vor der Nachbarin leugnet, ihr nicht zur Last fallen will. Catherine Lovey kann das gnadenlos genau erzählen und gleichzeitig schwingt von Seiten der Nachbarin Heiterkeit mit.  


Jérôme Meizoz: Faire le garçon

4. März 2024

Die ungeraden Kapitel tragen den Titel “Enquête”. Darunter sind verschiedene Dokumente, Erinnerungen, Zeugnisse versammelt. Da drückt der Soziologe und Bourdieu-Schüler Meizoz durch. Es werden Determinismen und Zuordnungen von Männlichkeit (im Wallis des 20. Jahrhunderts hinterfragt.

Die geraden Kapitel heissen “Roman”. Meizoz schildert die Reise eines sensiblen und einsamen jungen Mannes, der die ihm auferlegte männliche Rolle ablehnt. Dieser “Junge mit Mädchenherz” tauscht nun seine Zärtlichkeit mit vernachlässigten Frauen aus, bewahrt so seine Freiheit. Er prostituiert sich und betrachtet sein Geschäft als einen Akt der Liebe.

 

Wir lesen eine Sammlung von Fragmenten, von denen einige dokumentarischer natur sind, andere aus der Fiktion stammen. In beiden Registern gibt es eine Figur namens “le garçon” – auf der einen Seite eine fiktive Figur, auf der anderen ein teils autobiografischer Junge. Im Laufe der Geschichte überschneiden sich die beiden Figuren.  


Juri Andruchowytsch: Moscoviada

28. Februar 2024

Moscoviada ist 1993 erschienen und spielt in der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Erzählt wird die Geschichte des ukrainischen Literaturstudenten Otto von F. Ungemütliche Zustände im Wohnheim, Unmengen Alkohol, Konflikte unter den nationalen Gruppierungen. Dort hält Otto auch eine spontane Rede, in der er die Unabhängigkeit der Ukraine fordert und dafür Applaus erhält. Er gerät später in die Fänge des Geheimdienstes, stürzt buchstäblich immer tiefer in den Moskauer Untergrund, verliert sein Ticket für die Reise nach Kiew, Ratten, Kloake, Uebelkeit, Geheimdienstler, geheime Metrozüge – ein wilder Ritt durch die Unterwelt. Erschiesst schliesslich als Clown verkleidet, alle Mitglieder des Präsidiums, die da auch unterirdisch versammelt sind und sich als Popanze herausstellen. Am Schluss tötet er sich selbst, was ihn aber nicht daran hindert, nach Kiew zu reisen. Ein wilder und ungezügelter Abgesang auf das Imperium Sowjetunion. Man denkt an die Divina Commedia oder an Bulgakows Meister und Margarita. Das Buch ist 2006 deutsch erschienen. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt Andruchowytsch, dass er 1992 zum ersten Mal im Westen war und merkte, dass ihn seine westlichen Kollegen kaum verstanden: „Was denn für eine Ukraine? Was ist das? Ist die Ukraine denn nicht Russland? Was plappert er von einer ukrainischen Sprache? Die sind doch wirklich alle verrückt geworden in ihrem Osten!“ Weil zu dieser Zeit die imperialen Kräfte wieder erstarkten, meinte er, etwas dagegen tun zu müssen und tat was er konnte – dieses Buch schreiben. „Ich glaubte, sobald ich den Roman fertiggestellt hätte, wären alle imperialen Gespenster vertrieben und nur noch hölzerne Schaufensterpuppen übrig, aus denen Sägespäne rieseln.“


Jean-Pierre Rochat: La plage des pauvres

27. Februar

Es ist bereits der zehnte Erzählband, der beim Pariser Verlag „La Chambre d’échos“ herauskommt. Im Untertitel: „Hunde-Mäteli“. Es geht um die Seematte in Nidau am Bielersee. Französisch: Plage des pauvres, ganz offizell. Man kann sich die Menschen, von denen die Geschichten erzählen, gut auf dem Hundemätteli vorstellen. Oder sie gehen grad dorthin oder kommen von dort. Einfache Leute, Leute am Rand von allem, überforderte Menschen, Betrunkene und Habenichtse.

„Tristesse et Désespoir sonnent à ma porte: bonsoir, on vient pour la visite. Quelle visite ? La visite des vieux seuls et mal nourris. Je ne suis pas seul, ni mal nourri. Peu importe, nous passons la porte. C’est contagieux vos sales gueules ? Très. »

« Le repas le moins cher c’est d’aller piquer un quignon de pain à la colonie des cygnes et une boîte de thon à l’huile dans la réserve derrière chez Denner. »

 

Konnte der Erzähler in früheren Erzählungen bei den Frauen noch landen, ist er inzwischen doch auch etwas älter geworden und erntet im besten Fall etwas Mitleid. 


Monika Helfer: Löwenherz

27. Februar 2024

Es ist Monika Helfers drittes Buch über ihre Familie. Diesmal über ihren Bruder Richard, der sich mit dreissig Jahren das Leben nimmt. Sie erzählt, wie er die hochschwangere Kitti vor dem Ertrinken im Bodensee rettet und prompt zum Vater ihrer Kinder erklärt wird. Eine sehr berührende Geschichte, wie Richard und das Kind, das immer Putzi genannt wird, aneinander hängen, einander lieben. Berührend, dieser Richard, wie er freundlich, kindlich, autistisch? durchs Leben geht. Ein „Schmähtandler“ ist er. „Spundus“ – ein anderer Austriazismus oder „präpotent“. Auch der Name des Hundes ist nicht gewöhnlich, er heisst Schamasch (nach dem babylonischen Sonnengott, dem Gott der Gerechtigkeit und des Wahrsagens).


Florian Illies: Zauber der Stille

16. Februar 2024

Illies macht Provenienzforschung. Unglaublich, was er alles zusammenträgt, wunderbar, alle Bezüge und Kontexte. Dabei lernt man Friedrich besser kennen. Auch seine Zeit, die mit seinen Bildern nicht viel anfangen konnte. Lustig seine Beziehung zu Goethe, den er masslos bewunderte und um seine Anerkennung kämpfte. Dieser aber konnte nichts mit ihm anfangen und hielt ihn sich vom Leib. Erhellend, wie Bilder völlig anders interpretiert, angesehen werden können. Zwei Beispiele:

Heinrich von Kleist schrieb über das Bild „Mönch am Meer“: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt… wie die Apokalypse da.“ Die Aussichtslosigkeit, die Kleist in Friedrichs Bild erkennt, ist seine eigene. Wenige Monate später tötet er sich, auf einem kleinen Sandhügel (wie der Mönch am Meer) am Rande des Kleinen Wannsees bei Berlin. Das Bild von Caspar David Friedrich als Bühnenbild „und in radikalster Konsequenz  zu Ende gedacht.“

Friedrich Wilhelm von Preussen verliert 15jährig seine Mutter, die Königin Luise und versinkt in Trauer. Drei Monate später eröffnet er mit seinem Vater die Akademieausstellung in Berlin und geht an der Seite seines Vaters teilnahmslos durch die Räume.  Da fällt sein Blick plötzlich auf ein ungeheures Bild. Der Kronprinz sieht den „Mönch am Meer“.  Er wünscht sich das Bild, der Vater kauft es. „Wie kann es sein, dass ein und dasselbe Bild von einem einsamen Mönch am Meer den einen Menschen, den Kronprinzen, in tiefster Trauer trösten kann – und den zweiten, Heinrich von Kleist, hinabgleiten lässt in den tödlichen Sog der Einsamkeit und Untröstlichkeit.“

Am 31. Januar 1937 besucht der irische Autor Samuel Beckett Dresden und sieht „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ und schreibt:  „Schöne Vorliebe für 2 kleine, müde Männer in seinen Landschaften, wie in der kleinen Mond-Landschaft, die einzig noch akzeptable Form der Romantik: Das ganze in Moll.“ In den 1970er Jahren verrät er: „This was the source for Waiting for Godot“.  „Aber wie kann es eigentlich sein, dass es in Becketts Stück, dem bedeutendsten des absurden Theaters, um das sinnlose Warten zweier Menschen auf einen inexistenten Godot geht und beide verloren sind in der Landschaft und in der Welt – und dass ebendieses Stück inspiriert ist von dem Bild des Malers, das die genau gegenteilige Botschaft hat? Wir sehen bei Friedrich zwei Menschen, die geborgen sind in der Landschaft und die wissen, dass ihr Warten auf den existierenden Gott Erfüllung finden wird.“

(Die Bilder kann man auf google schauen)

Mönch am Meer bei Caspar David Friedrich Poster Caspar David Friedrich - Zwei Männer betrachten den Mond (1830) - Samsung Frame TV Art - Berühmte Kunst, Pastellfarbe, Bauernhaus Wanddeko

Hab ich vom Dominik zum Lesen bekommen!


Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff

2. Februar 2024

Es gibt Erzähler und Erzähler. Und so einer ist Köhlmeier. Er mixt gekonnt Fabuliertes, Fantastisches und Tatsächliches. Hintergrund der Geschichte sind die Ausbürgerungen Intellektueller aus der Sowjetunion, u.a. per Schiff. Trotzki schrieb: „Wir haben diese Leute ausgewiesen, da es keinen Anlass gab, sie zu erschiessen, aber sie noch länger zu ertragen, war unmöglich.“ (Felix Philipp Ingold (Romainmôtier) hat darüber schon im Jahr 2000 geschrieben. Hat sich Köhlmeier da inspirieren lassen?) Köhlmeier bietet nur ein Schiff auf und es sind auch nur zwölf Personen (davon ein Mädchen) an Bord. Nach kurzer Fahrt hält das Schiff auf offener See an und allmählich wird uns Lesern klar, dass Lenin an Bord gebracht wurde. Das Mädchen entdeckt ihn und führt nächtliche Gespräche mit dem schon ziemlich gebrechlichen Lenin. Köhlmeier sagt in einem Interview, dass er alle seine Texte seiner Frau Monika Helfer (auch Schriftstellerin) vorliest. Was mündlich nicht passt, wird korrigiert. Das merkt man.  


David Grossman: Frieden ist die einzige Option

2. Februar 2024

Wie das halt Verlage so machen – aus gegebenem Anlass versammeln sie von einem bekannten Autor Reden, Aufsätze, Artikel. Die Texte hier sind aus den Jahren 2017 bis 2023. Der Titel stammt allerdings nicht aus einem Text von 2023. Er steht am Ende der Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz 2017. In dieser Rede appelliert er auch an alle „rationalen“ Länder: „Wir brauchen Ihre Hilfe“. „Wenn Ihnen Frieden und Sicherheit wichtig sind, dann unternehmen Sie etwas, um Israel und die Palästinenser aus dem Kreislauf der Selbstzerstörung zu erretten.“  Es wollte niemand etwas unternehmen. Die letzten Texte sind Trauerreden und davor, zu Beginn des Jahres 2023, ein Aufsatz anlässlich des „Umsturzes des Justizsystems“. Grossman, der seit über vierzig Jahre gegen die Besatzung kämpft, muss anerkennen: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Israelis schlicht nicht in der Lage, sich der Tatsache der Besatzung zu stellen.“ In einem Aufsatz vom Juni des gleichen Jahres macht er sich Gedanken darüber, was ein jüdischer Staat ist: „Ein jüdischer Staat ist die nationale Heimstatt aller Juden, der die volle Gleichberechtigung aller seiner Bürger als entscheidende Prüfung seiner Humanität und als Erfüllung der Visionen seiner Propheten und Gründerväter betrachtet.“


Alex Capus: Susanna

2. Februar 2024

Ich habe Verspätung. Es gibt ja inzwischen einen neuen Capus-Roman, aber der ist immer noch gut. Vorlage ist die Lebensgeschichte von Susanne Carolina Faesch aus Basel. Aber der Romanautor nimmt sich viele Freiheiten heraus, zum Glück. Eine ganz verrückte Geschichte mit dem „Wilden Mann“ in Basel, dem die kleine Susanne ein Auge aussticht, dann die Reise nach Amerika mit ihrer Mutter, die Begeisterung für die Indianer. Alles erzählt mit viel Witz und Zuversicht.


Juri Andruchowytsch: Der Preis unserer Freiheit

2. Februar 2024

Gesammelte Essays, Reden und Artikel aus den Jahren 2014-2023. Andruchowytsch spricht gut deutsch und war häufig auch in der Schweiz. Und schon seit langem sah er die Zukunft der Ukraine in Europa, auch zu einer Zeit, als man noch meinte, sein Land sei doch eine gute Pufferzone zwischen Russland und der EU. Hier nur zwei Ausschnitte. Der erste aus einem Artikel der NZZ 2014. Andruchowytsch erzählt von spanischen Bauern, die aus Protest eine Europafahne verbrennen, was ihn zu folgender Bemerkung bringt: „Ein gutes Beispiel dafür, dass auf dieser Welt weiter Verständnislosigkeit herrscht. Die einen wollen nicht einmal auf ein paar Cent ihres Wohlstandes verzichten und verbrennen wütend das Symbol des SYSTEMS, das beschlossen hat, diesen Wohlstand zu begrenzen. Die anderen sterben unter diesem Symbol einen alles andere als symbolischen Tod, denn der Wert der Fahne bemisst sich für sie weder in Cent noch Euro. Diese Fahne ist überhaupt unbezahlbar, denn hier und jetzt, auf diesem Maidan, steht sie für nicht weniger als für die Menschenwürde. Mehr noch - für–den Sinn des Daseins.“ In einem Vortrag 2022 sagt er: „Der russisch-ukrainische Krieg, der im Februar 2014 auf dem Kiewer Maidan begann und genau acht Jahre später zur Grossinvasion wurde, ist durch einen entscheidenden Antagonismus gekennzeichnet: Während die Ukraine um ihre Zukunft kämpft, kämpft Russland um seine Vergangenheit.“


Charles Enderlin: Israël. L'agonie d'une démocratie

26. Januar 2024

En deux mots: Es gibt einen demokratischen und einen messianischen Zionismus. Jetzt hat in der Regierung, mit Netanjahu, der messianische die Oberhand.

Der Grossrabiner Abraham Isaac haCohen Kook liefert dazu ein biblisches Gleichnis. Manchmal benutze nämlich die Geschichte Elemente ausserhalb der Tora. Also: der Prophet Zacharias sagt: „Freut euch, ihr Menschen auf dem Berg Zion, jubelt laut, ihr Einwohner von Jerusalem! Seht, euer König kommt zu euch! Er ist gerecht und bring euch Rettung. Und doch kommt er nicht stolz daher, sondern reitet auf einem Esel, ja, auf dem Fohlen einer Eselin.“ Heisst für den Grossrabiner: Die nichtgläubigen Juden sind das Fohlen, auf dem der Messias kommt.  Viele Jahrhunderte später meinte ein Anderer, in einem anderen Zusammenhang zu diesem Vorgang, sie sind die nützlichen Idioten. (Genau, der Evangelist Matthäus lässt Jesus diese Prophezeiung erfüllen und auf dem Esel in Jerusalem einziehen).

 

Man kann nur über die Kraft der Erzählungen in allen Religionen staunen. Wenn sie in die Hände der Mächtigen kommen, gibt es kein Halten mehr. Jüngstes Beispiel: Premier Modi weiht in Ayodhya auf den Ruinen einer Moschee, einen Hindutempel ein, ein Schritt mehr vom säkulären Indien zum hindunationalistischen Staat.  


Martha Schüpbach: Zimmermeitschi bim Herr Hesse

19. Januar 2024

Vom Hesse-Haushalt erfahren wir wenig. Dem Zimmermeitschi ist aber aufgefallen, dass Herr und Frau Hesse über Zettelchen kommunizierten, die sie in der Mitte des Hauses deponierten, denn im einen Teil wohnte Ninon, im anderen Hermann. Auch musste immer viel geputzt werden.  Vor allem aber erzählt sie vom Leben auf dem Hof im Emmental. vom Höiet, etwa: „Meischens hii mer ja müesse e Schwir i d Rad stosse bim Höischnägge, dass si numme no zybet sy u nümme umgange, wiu mer a so stotzigi Börter ghöiet hii. U de het gäng no iis müesse uf d Stange hocke, dass d Schnääre sy s Bode cho u hii ghuufe brämse.“


Alain Freudiger: Arpenté

19. Januar 2024

Alain Freudiger erinnert sich an seine Kindheit. Das macht er sehr ausführlich, beschränkt sich auf den Beginn der Erinnerungen mit drei Jahren bis zu seinem siebten Lebensjahr.  Erstaunlich, woran er sich alles erinnern kann. Es sind fast alles schöne Erinnerungen, die Strasse, die Zäune, die Traktoren, die Kameraden, die Zäune, der Wald.  Die Gerüche und Farben. Alles im Gros-de-Vaud in den 80er Jahren.  Eine sehr ländliche Welt des Pastoren-Sohns. Geschildert wird in der Ausführlichkeit eines sehr genauen Ethnografen. Man erinnert sich an Chessex’s Portrait des Vaudois, Porträt hier eines Kindes in der gleichen Landschaft, mehr als 50 Jahre später. 


Jon Fosse: Morgen und Abend

19. Januar 2024

Erzählt wird  der Tod, sein eigener, mit Erscheinungen, Erinnerungen, Begegnungen. Aber vorher schildert er noch eine Geburt. Das reicht. Wenn mal über die ersten zwanzig Seiten ist,  entsteht ein schönes Lesevergnügen.  


Edmund de Waal: Camondo

2. Januar 2024

Edmund de Waal hat uns ja mit dem „Hase mit den Bernsteinaugen“ begeistert. Hier kehrt er wieder nach Paris zurück, ins 8e, in die rue de Monceau. Da residierten die Ephrussis und nur ein bisschen weiter die Camondo. Und wieder geht es um wahnsinnigreiche Juden und wieder kamen sie aus dem Osten, diesmal nicht aus Odessa, sondern aus Konstantinopel. Und wieder assimilierten sie sich total und sahen in der französischen Zivilisation und Kultur das Grösste. Sie engagierten sich à fond im kulturellen Leben. Maler und Schriftsteller gingen bei Camondos ein und aus. Proust und Manet, usf. Französischer und patriotischer als die Camondos konnte man nicht sein. De Waal wählt hier die Briefform. Er wendet sich in fiktiven Briefen an Moïse Camondo, geht durch seinen Prachtpalast, den er sich hat erbauen lassen, schildert all die Schönheiten mit dem Blick des Keramikers, des Handwerkers, der de Waal auch ist. Und zum Schluss dann der Hammer, die kommen nach Auschwitz, die Familie wird ausgelöscht (Moïse stirbt 1935 und vermacht das Palais der Stadt). Und da gibt es noch einen Zürichbezug. Das Bild „La petite Irène“ von Renoir aus der Bürlesammlung, diese Irène war die Frau von Moïse Camondo und ihr Sohn Nessim kam im Ersten Weltkrieg ums Leben und sein Vaterhaus ist heute ein Museum, ein üppiger Palais des 18. Jahrhunderts.

Jakob Arjourni: Der heilige Eddy

7. Januar 2024

Ein Fund im welschen Brockenhaus. Sehr effizenter Text. Da geht was. Originelle kriminelle Energie. Und wehmütiger Schluss im Gefängnis.