Urs Faes: Und Ruth

11. Dezember 2017

Ein Internatsroman. Warum sind so viele Internatsromane geschrieben worden? Der Reiz der Adoleszenz? Jungmännergesellschaft? Der Mix von Verführung, Missbrauch und kirchliche Vertreter? Stolz trotz allem auf die klassische Bildung? Ganz einfach Einheit von Ort, Zeit und Handlung? Hier kommen dazu ein eigentlicher Fall von Mobbing und die späte quälende Erinnerung daran.


Daniel Kehlmann: Tyll

25. November 2017

Tyll. Weil der Roman so wahnsinnig gelobt wird, war ich anfänglich etwas enttäuscht. Aber gut ist er schon. Man bewegt sich durch die furchtbaren Wirren des Dreissigjährigen Kriegs am Händchen von Daniel Kehlmann, der tatsächlich ein Meister seines Fachs ist. Tyll, Till Eulenspiegel lebte viel früher, Kehlmann hat ihn in seine Geschichte geholt und passt da gut dazu.


Metin Arditi: Le Turquetto

21. November 2017

Es geht um einen jungen jüdischen Mann, der in Konstantinopel aufwächst und ein grosses Talent zum Zeichnen und Malen hat. Zudem lernt er die Kunst der Kalligraphie von einem muslimischen Meister. Mit seinen Gaben hat er allerdings keine Chance in Konstaninopel und er schlägt sich nach Venedig durch, wo er unter falscher Identität, als Christ, in diesem Renaissance-Milieu Karriere macht. Metin Arditi ist selber in Istanbul geboren und später in Genf zu grossem Wohlstand gekommen. Das Buch ist sehr gut recherchiert, stellt die Gewalt und Verbote der monotheistischen Religionen in Frage. Eines seiner erfolgreichsten Bücher, spannend gemacht. 2011 erschienen.


Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit

14. November 2017

Man liest sich leicht und vergnügt durch die Jahrtausende und lässt sich unsere Anfänge erklären. Ich habe davon ja keine Ahnung, also gefällt mir, was Harari so erzählt. Und manchmal sagt sogar er, dass er das nicht so richtig weiss und dieser oder jener anderer Meinung ist. Es ist gut zu wissen, dass Harari sehr ausführlich buddhistische Vipassana-Meditation praktiziert und Veganer ist. Es leuchtet dann besser ein, dass er immer wieder versucht herauszufinden, ob die Menschen zu einer bestimmten Epoche glücklicher waren, als zu einer anderen. Die ersten Bauern waren seiner Meinung nach sicher unglücklicher als die Jäger und Sammler. Und trotzdem haben sie sich den Nomaden gegenüber durchgesetzt. Später wird dann die Leidverminderung ein Thema. Ein buddhistisches Konzept. Er schreibt auch viel über das Schicksal der Tiere und betrachtet die industrielle Tierhaltung als eines der grössten Verbrechen der Menschheit. Glück, Tiere, tatsächlich kaum berücksichtigte Kategorien in der Geschichtsschreibung. Bei der Geschichte der Religionen schlägt er ziemlich mutige Bogen. Also Anbetung von mehreren Göttern, dann von nur noch von einem und schliesslich Anbetung des Menschen im Humanismus. Da schluckt man schon es bitzeli leer. Am Schluss kann man als Leser herauslesen zwischen dem ökologischen Untergang der Menschheit oder einem genetischen Ende – vor lauter Optimieren. Seine letzten Sätze:

„Wir sind Self-made-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unter unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit. Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?“

Ich werde sein neues Buch „homo deus“ im Moment nicht lesen, dafür mich wieder mal für den griechischen Götterhimmel interessieren.


Jean-Pierre Rochat: petite brume

13. November 2017

In dieser neusten Novelle von Jean-Pierre Rochat geht es um ein aktuelles Problem in der Landwirtschaft - um die Suizide von Bauern. Erzählt wird die Geschichte von einer Gant. Der Bauer führt Kuh um Kuh aus dem Stall zur Versteigerung, erinnert sich an die gemeinsam verbrachte Zeit, will zwischendurch immer wiedermal den Gantrufer oder sich selber umbringen. Wie aber in allen Geschichten Rochats taucht auch hier eine Frau auf um ihn zu trösten. "petite brume" heisst sein Pferd, das am Schluss zur Versteigerung kommen sollte...


Delphine Minoui: Les Passeurs de livres de Daraya

8. Oktober 2017

Daraya, ein Vorort von Damasus, ist von Assads Truppen von 2012 bis 2016 belagert und völlig zerstört worden. Junge Männer haben dort in einem Keller eine Bibliothek eingerichtet. Die Journalistin Minoui hat mit ihnen von Istanbul über Skype usf Kontakt aufgenommen und erzählt die Geschichte dieser Bibliothek und ihrer Benutzer. Die meisten von ihnen wurden erst durch die grauenhafte Situation zu Lesern. Was lesen sie? Ratgeber für ein besseres Leben aus den USA, Weltbestseller, dann aber auch Ibn Khaldun oder Mahmud Darwisch, den palästinensischen Dichter. Ein ergreifendes Buch.


Alphonse Layaz: La Passagère

6. Oktober 2017

Auch er ist ein Radiokind. Der langjährige Sendungenmacher ist seit seiner Pensionierung ein eifriger Schriftsteller und Maler. Mit jedem dieser faits divers zeigt er seine Freude am Schreiben. Erinnerungen, kleine Szenen, Phantasien - immer toll geschrieben.


Anne-Sophie Subilia: Parti voir les bêtes

6. Oktober 2017

Ich habe Anne-Sophie als Sekretärin beim Radio kennengelernt. Jetzt ist aus ihr eine Schriftstellerin geworden. Sie erzählt von einem jungen Mann, der aufs Land zieht, ins Dorf seiner Kindheit und an der Verstädterung verzweifelt.


Marc Voltenauer: Le Dragon du Muveran

26. September 2017

Bin nicht so der Krimileser. Aber den musste ich berücksichtigen, das Buch ist schon über 30'000 mal verkauft worden. Ein Megabestseller im Welschland. Kann übrigens all jenen empfohlen werden, die ihr Schulfranzösisch erhalten oder aufbessern möchten. Der Krimi, der in den Waadtländer Alpen spielt, liest sich einfach und ist wirklich gut gemacht.


Wölfe

1. September 2017

Geschichte und Biologie. Sehr schön gemachtes, gepflegtes Buch. Den Wolfskeptikern zu verschenken.


Yasunari Kawabata: Les Belles endormies

13. August 2017

Das ist ein Altherrenbuch. Die Geschichte von einem Alten (genau in meinem Alter), der in ein Puff der besonderen Art geht. Die Frauen und Mädchen werden dort in Tiefschlaf versetzt und die Herren können sie anschauen und andöpeln und dann auch zwei Schaftabletten einwerfen und selig neben der Schlafenden einschlummern. Das musst du unbedingt lesen, ist vom Besten, Kawabata ist nicht umsonst Nobelpreisträger, meinte ein von mir hochgeschätzter Literaturkenner (auch gleich alt wie unser Romanheld). Das wäre nun gemacht. Sieht so aus, als hätte ich da nicht alles verstanden.


Werner Ryser: Das Ketzerweib

31. Juli 2017

Schon in seinem Roman "Walliser Totentanz" (der sehr erfolgreich war), spielte eine Frau die Hauptrolle. Diesmal kämpft Anna gegen "Gnädigen Herren" von Bern an. Ihr Mann ist als Täufer (Mennonit) zur Galeere nach Venedig verurteilt worden, sie selber, vom Dorfpfarrer im Emmental missbraucht, schließt sich aus Trotz der verbotenen Täufergemeinde an und wird schließlich verbannt. Auf einer Jurahöhe, im Fürstbistum Basel, wird sie dann aufgenommen. Ein Roman, der das brutale Regime in Bern im 17. Jahrhundert nachzeichnet. Und so wie Ryser die Unmenschlichkeit der katholischen Kirche im Oberwallis im früheren Roman beschrieb, so tut er es hier mit der reformierten Staatskirche in der Berner Landschaft.


Stefan Zweig: Die Welt von gestern

30. Juli 2017

War auch auf der langen Liste der noch zu lesenden Bücher. Diese Autobiografie Zweigs beginnt am Vorabend des Ersten Weltkriegs und endet mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nebst den persönlichen Daten und literarischen Erfolgen, interessieren vor allem seine gesellschaftlichen Schilderungen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Eine Welt, in Wien, die beste aller Welten, gesellschaftlich und kulturell. Es tschuderet einen bei dieser Lektüre - er beschreibt eigentlich auch unsere Zeit. Aber Geschichte wiederholt sich ja nicht, sagen uns die Historiker. Dann fällt auch sein permanentes Bekenntnis zu einem gemeinsamen Europa aus. Als Garant für den Frieden. Man sollte sich das hinter die Ohren schreiben. Und: man darf sich von den 600 Seiten nicht abschrecken lassen. Das Buch liest sich super. Zweig ist ein Meister. Hat sich, nachdem er das Manuskript in Südamerika abgegeben hat, das Leben genommen. Sehr zu empfehlen. https://fr.m.wikipedia.org/wiki/Stefan_Zweig,_adieu_l'Europe


Primo Levi: Ist das ein Mensch?

20. Juli 2017

Das stand schon eine Weile auf der allzulangen Liste der Bücher, die man eigentlich gelesen haben sollte. Sehr mit Recht finde ich. Auf 160 Seiten schreibt Levi nüchtern und genau von der totalen Entmenschlichung in Auschwitz 1944, anfangs 45.


Martin R. Dean: Verbeugung vor Spiegeln

3. Juli 2017

Lesenswerter Essay! "Das Fremde, Das eigentliche Kapital der Moderne, droht in den Prozessen der Globalisierung zu verschwinden. Um es wiederzugewinnen, müssen wir darauf bestehen, dass das Fremde fremd bleibt, wir müssen es aushalten."


Ludwig Winder: Der Thronfolger

28. Juni 2017

Grad zum Termin fertiggelesen. Heute vor 103 Jahren sind Erzherzog Franz-Ferdinand und seine Frau in Sarajevo erschossen worden. Das war der Auslöser für den Ersten Weltkrieg. Das Buch ist 1937 erschienen - und zwar in Zürich, in Österreich wurde es verboten. Will man die Geschichte aus der Sicht des Historikers nachlesen, so haben wir heute das Werk von Christopher Clark "Die Traumwandler" zur Verfügung. Auch der Roman von Winder ist bezüglich Fakten nicht ohne. Doch der 1946 verstorbene Autor gehört zu den Vergessenen der Literaturgeschichte. Schade, denn das Buch ist grossartig. Der Mann kann schreiben, pflegt feine Ironie, macht überhaupt nicht in Nostalgie. Grad so gut wie etwa "Die Welt von gestern" von Stefan Zweig oder "Der Radetzkymarsch" von Joseph Roth.

Man lernt nicht nur einen unbeliebten, ziemlich gestörten Thronfolger kennen, einen perversen Jäger, Winder führt uns auch die brüchige Doppelmonarchie vor Augen.


Richard Weiss: Häuser und Landschaften der Schweiz

22. Juni 2017

Das Buch ist erstmals 1959 erschienen und jetzt wieder neu gedruckt worden. Ein Muss für alle, die an Häusern und Landschaft interessiert sind. Richard Weiss räumt mit der Ansicht auf, dass die Art, wie man Häuser baute, etwas mit der Herkunft, der Volkszugehörigkeit zu tun hätte. Er pflegte eine sehr funktionale Sichtweise, wie die kleine Tabelle sehr schön zeigt.



Urs Amacher: Heilige Körper

19. Juni 2017

Im Bildersturm des 16. und 17. Jahrhunderts wurden katholische Kirchen auch ihrer Reliquien beraubt. Daraufhin sorgte der Papst für Nachschub und veranlasste, dass man Tausende von Leichen aus den römischen Katakomben exhumierte. Ob das nun Märtyrer waren oder nicht, konnte niemand mehr ausmachen. Mit Hilfe von Schweizern im Dunstkreis des Papstes kamen viele dieser „Heiligen“ in die Schweiz, wurden mit einem Namen versehen und den Gläubigen zur Verehrung empfohlen. Hansjakob Achermann hat als erster diese Translationsheiligen untersucht. Nun hat Urs Amacher über das Schicksal der elf Katakombenheiligen im Kanton Solothurn geschrieben. Die Knochen wurden von Nonnen kunstvoll gefasst, meist als Soldaten, sind aber fast ausnahmslos im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den Altären verschwunden. Den Leuten wurde das zu gruselig und das Zweite Vatikanische Konzil machte ihnen vollends den Garaus. Urs Amacher hat im Kanton Solothurn hartnäckig gesucht und häufig auch gefunden. Man hat sie in der Kirche unters Dach verfrachtet oder einfach bei der Modernisierung der Kirche in den neuen Altar eingemauert.


Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte

8. Juni 2017

EIN Lutherbuch im Lutherjahr, das muss genügen... Der Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann macht die Reformationsgeschichte sehr anschaulich. Besonders aufgefallen ist mir, dass es nicht so war, dass die katholische Kirche in so einem schlechten Zustand war, dass es auf der Hand lag, dass sie reformiert werden musste. Noch nie ging es der Kirche so gut wie am Vorabend der Reformation. Wie bei anderen historischen Grossereignissen konstruieren wir im Nachhinein „entscheidende“ Auslöser. Bei der Reformation etwa den Ablasshandel. Luther hat eigentlich nur ein wenig an der „Form“ der Kirche reformiert, an der ganzen Heilslehre hat er nicht gerüttelt, hat an der Linie des Paulus über Augustinus festgehalten, mit Erbsünde und allem Drum und Dran. Auch da hat man im Nachhinein „erklärt“, was nun der Unterschied zwischen katholisch und reformiert ist.

Der Bischof von Freiburg, Charles Morerod war Gast bei den Feierlichkeiten in der Lutherstadt Wittenberg. Als Gastgeschenk hat er eine vorreformatorische deutsche Bibelübersetzung aus der Schweiz mitgebracht… Soviel zum Thema, dass erst mit Luther die muttersprachliche Bibel kam.


Michel Layaz: Louis Soutter, probablement

7. Juni 2017

Louis Soutter gehört zu den wichtigsten Zeichnern und Malern des 20. Jahrhunderts. Die letzten 19 Jahre seines Lebens verbrachte er im Asile des vieillards in Ballaigues (unweit von Vallorbe). Sein Cousin Le Corbusier machte ihn in Paris bekannt, ebenso Jean Giono, der ihn in Ballaigues besuchte. Michel Layaz zeichnet sein Leben nach, wie es probalement, wahrscheinlich, verlief. Er macht das sehr feinfühlig und genau.


Claude Tabarini: Rue des Gares et autres lieux rêvés

7. Juni 2017

Ein poetischer Genfer Reiseführer von Claude Tabarini, Jazzmusiker und Poet. Und wie in einem Silva-Buch bekommt man die Bilder zum Einkleben. Man kann die Fotos von Tabarini dort einfügen, wo man meint, dass sie hinpassen. Prix Dentan 2017.


Roger Reiss: Schmatissimo

7. Juni 2017

Schmatess ist jidddisch und heisst soviel wie Stoffrest, Fetzen. Roger Reiss hat also sozusagen Erinnerungsfetzen seiner jüdischen Biografie, seiner jüdischen Familie zusammengetragen. Er hat das schon mit „Fischel und Chaye“ getan (Philo-Verlag Berlin), später mit „Leon und Lucie“ (Orell Füssli) und schliesslich mit „Nicht immer leicht a Jid zu sein“ (Chronos). Aus dieser Reihe tanzt der autobiografisch inspirierte Roman „Der mundtote Schweizer Privatbanker“. Hier hat er nun eben Schmates gesammelt, zwischen Zürich und Genf, zwischen Aschenkasen und Sefarden, zwischen Wehmut und der Hoffnung, dass doch nicht alles vergessen gehen soll.


Jean-Philippe Blondel: Mariages de saison

31. Mai 2017

Schön für eine etwas längere Bahnreise. Eine leichte Geschichte eines jungen Hochzeitsvideasten, dem Heiratende allerhand anvertrauen. Leicht, aber keineswegs seicht.


Juri Andruchowytsch: Kleines Lexikon intimer Städte

29. Mai 2017

Der Ukrainer Andruchowytsch hat ein ABC seiner Städte geschrieben. Er hört mit Z wie Zug auf, weil er dort auf Einladung der Landis&Gyr-Stiftung residierte und erzählt von der nichtzustandegekommenen Lesung im Gefängnis, weil dort gerade einer entwischte. Das A ist mit Aarau besetzt. Da ist er nur wegen der beiden a hingefahren. Dazwischen etwa seine Lieblingsstadt Berlin, dicht gefolgt von New York, Kiew natürlich mit den Erinnerungen an Maidan. Erinnerungen eines 200% Europäers. Intim ist übrigens gar nichts. Es sind einfach persönliche Erinnerungen. Wo ihm was passierte, wo er wen getroffen hat. Vielleicht hat ihm der Verlag gesagt, hey Juri, wir hatten schon eine ganze Weile nichts mehr von dir im Programm. Du hast sicher ein paar Notizen in der Schublade.


Metin Arditi: Mon père sur mes épaules

26. April 2017

Nach etwa einem Dutzend Romane hat Metin Arditi nun über seinen Vater geschrieben. Der hat ihn, die sefardische Familie lebte damals noch in Istanbul, mit sieben Jahren in ein Schweizer Internat gesteckt. Dort blieb er elf Jahre und sah seine Familie nur wenige Tage im Jahr. Das Verhältnis Vater - Sohn und auch das Thema Internat tauchen in vielen seiner Romane auf. Hier zeichnet der 72 jährige Sohn einen Vater, den er heiss geliebt und bewundert hat. Gleichzeitig schildert er dessen Kälte und Feigheit. Das macht das Buch lesenswert und berührend, menschlich.


Jakob Weiss: Die Schweizer Landwirtschaft stirbt leise

11.April 2017

Eigentlich geht es in diesem Buch um Sprache und darum, dass Sprache unser Denken und Handeln prägt. Wenn wir also "Produzent" statt "Bauer" sagen, will das etwas bedeuten. Oder anstatt "Acker" "Produktionsfläche". Landwirtschaft ist sprachlich ein Teil der Industrie geworden. Aber Früchte, Gemüse, Tiere können nie Industrieprodukte sein. Eine neue Sprache ist gefragt.

 


Paul Hugger: Les Ages de la Vie

3. März 2017

Das ist der Band 10 der legendären Encyclopédie vaudoise. Ich habe ihn jahrelang gesucht und jetzt in einem Brockenhaus für den Kilopreis von vier Franken erstehen können. Das Besondere? Paul Hugger hat Mitte der 70er Jahre in der Waadt 16 Gesprächsgruppen organisiert, die sich über das Alltagsleben, besser gesagt über die Themen des Lebenslaufs ausgetauscht haben. Das ist so vorher und nachher nie mehr gemacht worden. Da erfährt man zB, dass ein beliebtes Brautgeschenk ein Gebiss war...


Lotta Suter: In aller Welt zu Hause

24. Februar 2017

Aus aktuellem Anlass und mit großer Verspätung gelesen. In den verschieden Nachrufen ist schon vieles über Al Imfeld gesagt worden, da muss ich nicht auch noch. Lotta Suter hat es sich nicht einfach gemacht. Al Imfeld ist ohnehin schon schwer zu fassen und seine Erinnerungen sind wie Erinnerungen sehr häufig sind - eine permanente Baustelle. Das Buch ist nicht nur eine Biografie, sondern auch ein Lehrstück übers Biografieren.


Jonas Lüscher: Kraft

21. Februar 2017

Man liest mit Vorteil zuerst die Danksagung ganz am Schluss. Man erfährt da, dass Lüscher eigentlich vorhatte, an der ETH eine Philosophie-Diss zu schreiben. Die hängte er an den Nagel: "...ich habe die leise Hoffnung, dass für den einen oder anderen (Professor) dieser Roman als Entschädigung gelten mag." So sind wir etwas gefasster und frischen vielleicht vorher noch unseren Leibniz und seine Theodizee ein bisschen auf. Lüscher bleibt seiner Sprache des ersten Romans treu. Man muss sich daran gewöhnen, ist aber ein Genuss. Auch wie im ersten Roman jede Menge tolle Einfälle. Ultraliberale Superhirne, die schlussendlich an der Welt scheitern, wie andere vom ideologischen Gegenüber vor ihnen.


Juri Auderset, Peter Moser: Rausch & Ordnung

15. Februar 2017

Das ist eine Auftragsarbeit, die Juri Auderset und Peter Moser grossartig gemeistert haben, finde ich. Es ist eine Geschichte der Eidgenössischen Alkoholverwaltung. Eine Geschichte der Alkoholpolitik im langen 20. Jh. (1887-2015). Habe viel gelernt, etwa dass es in den ersten 30 Jahren nur um Kartoffe dazukam, wurde den Beamten bald klar, dass man eine eigentliche Gesundheitspolitik und Landwirtschaftspolitik ins Auge fassen musste. Man erinnere sich an die Hochstammfällungen in enormen Ausmass – im Namen des Fortschritts. Und die Pausenäpfel! Ich meinte immer, das Absinthverbot habe etwas mit regionaler Konkurrenz zu tun gehabt, Deutschschweiz – Westschweiz. Aber nein, die wichtigsten Gegner kamen aus der Waadt. Das Buch ist auch die Geschichte eines Monopols – Segen und Fluch. Und: man war sich nie einig, bis zum heutigen Tag, wie der Alkoholkonsum zu regulieren wäre. „Diese wechselvolle Dynamik zwischen Konsens über den allgemeinen Handlungsbedarf und Dissens über die konkreten Regulierungsschritte ist ein durchgehendes Merkmal der Geschichte der Alkoholfrage vom späten 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert.“


Fanny Wobmann: Nues dans un verre d'eau

2. Februar 2017

Fanny Wobmann ist Mitglied des welschen Autorenkollektivs AJAR (Association de jeunes auteurs de Suisse romande), das mit dem kollektiven Roman "Vivre près des tilleuls" Erfolge feiert. Beim gleichen französischen Verlag hat die junge Neuenburger Autorin ihren Roman "Nues dans un verre d'eau" herausgebracht.

Laura, eine Mikrotechnikerin aus La Chaux-de-Fonds, besucht sehr häufig ihre Grossmutter im Spital. Es sind ihre letzten Tage. Dazwischen reist sie für ein paar Wochen nach England, kommt schwanger zurück. Eine sehr sensibel erzählte Geschichte. Das heisst, Geschichte eher in "". Eher eine Sequenz aus dem Leben von Lauras Familie.


Alice Munro: Liebes Leben

27. Januar 2017

Ja was soll man da auch sagen? Eine der besten Erzählerinnen. Mit wenigen Sätzen ist man mitten im Leben von Frauen und Männern, denen das Leben seltsam mitspielt. Vieles bleibt beredt ungesagt und immer wieder sagen Figuren oder Erzählerin: "Ich weiss es nicht". Am Schluss vier autobiographische Erzählungen, die sich von den anderen Gesichten nicht besonders unterscheiden. Die Menschen in ihrem Leben sind nicht weniger verloren als die fiktiven Figuren.