Isabelle Aeschlimann: Les secrets de nos coeurs silencieux

21. April 2024

Es geht in diesem populären Roman vor allem um zwei Schwestern, die in der Ajoie aufwachsen. Die ältere mit Epilepsie und Schwerhörigkeit. Ihre Mutter hütet so manches Familiengeheimnis, der Vater wenig inspiriert aber geschäftstüchtig. Diese ländliche Welt steht ganz im Gegensatz zu Berlin, wo später die beiden Töchter sich hinflüchten. Hier sind die Leute lieb und zu vorkommend und Stadtluft macht halt frei. Ein Roman voller Ränke, Wendungen und Überraschungen bis auf die letzte Seite.


Irvin D. Yalom: Das Spinoza-Problem

11. April 2024

Der Buchtitel verweist erstens auf das philosophische Problem, das Spinoza lösen wollte: Wie kann die menschliche Vernunft jene Aufgaben übernehmen, die bisher von der Religion gelöst wurden? Wie kann sie zu einer Leidenschaft werden? Zweitens geht es um das Problem, das manche Juden seiner Zeit mit ihrem Glaubensgenossen – oder: Unglaubensgenossen – hatten. Drittens geht es um das Problem der Nazis. Rosenberg, der an die Überlegenheit der „arischen Rasse“ und die absolute Minderwertigkeit der Juden glaubte, litt darunter, dass Goethe – den er doch für den größten deutsche Dichter aller Zeiten hielt – Spinoza verehrte. Es ist also eine Art Doppelbiografie, wobei Yalom tief in seine psycholanalytische Trickkiste greift.  Von Spinoza weiss man nicht viel, von Rosenberg weiss man zwar, dass er ein ganz vergifteter Nazi war, Chefideologe, der ein Buch verfasste, das nach Hitlers „Mein Kampf“ auf Platz zwei landete.  Man mochte ihn aber an der Parteispitze nicht richtig und er hat darunter gelitten.  Aber von einer Verbindung zu Spinoza ist nichts bekannt, ausser dass er wie Goethe bewunderte, welcher wiederum Spinoza bewunderte. Yalom dichtet also zusätzliches Personal dazu, erfindet psychische Zustände des einen und des anderen. Dabei erfährt man doch einiges über den Nazi und den grossen Philosophen, dem wir Journalisten doch einen wichtigen Leitsatz verdanken (sorry, er hat lateinisch geschrieben): „sedulo curavi, humanas actiones non ridere , non lugere, neque detestari, sed intellegere.“


Witold Szabolowski: Wie man einen Diktator satt bekommt

10. April 2024

Eigentlich haben diese Diktatoren einfach gegessen. Sie liebten das Essen ihrer Kindheit. Sie waren keine reichen Jungs, ausser Fidel Castro, dessen Vater Grossgrundbesitzer war. Von Breschnew, der im Buch nicht vorkommt, wird erzählt, dass er ständig Kaviar und so vorgesetzt bekam. Nach den Empfängen hat er dann in seiner Privatwohnung nach seinem Koch gerufen, damit er ihm Bratkartoffeln macht. Der Autor, selber Koch,  hat noch lebende Diktatoren-Köchinnen und -Köche aufgesucht, sie erzählen lassen und mit ihnen gekocht. Man darf feststellen, dass Diktatoren eigentlich alle anlügen: ihre Bürgerinnen und Bürger, ihre Generäle, ihre Berater, ihre Minister. Sie betrügen ihre Ehefrauen und so weiter. Aber es gibt zwei Menschen, die sie nicht anlügen können: ihren Arzt – denn er sieht zum Beispiel ihre Bluttests – und ihren Koch. Pol Pot war ein besonderer Heuchler. Er hat das Nationalgericht seines Landes abgelehnt und sich stattdessen thailändische Gerichte vorsetzen lassen: Er hat die nationale Revolution blutrünstig durchgeführt, er zwang die Leute, stolze Khmer zu sein, und selber mochte er das Essen seines eigenen Landes nicht. Oder Saddam Hussein: Er hatte die Vorstellung, dass ein Präsident wie ein Vater für seine Kinder kochen sollte. Wenn er also im Krieg gegen den Iran an die Front fuhr, musste der Koch dort so tun, als ob Saddam selbst das Essen für die Soldaten gekocht hätte. Der Reis wurde vorab halb, das Huhn fertig gekocht. Das Einzige, was Saddam tun musste, war, den Reis gar zu kochen, zu würzen und zu servieren. Doch jedes Mal hat er es irgendwie verpatzt.

 

Für einen Diktator zu kochen, ist wie auf einem Minenfeld zu laufen. Ein falscher Schritt, und du konntest tot sein. Der Chefkoch von Enver Hoxha in Albanien übernahm den Posten, nachdem sein Vorgänger ermordet worden war. Der war beschuldigt worden, Hoxha vergiften zu wollen; er wurde ohne Verhandlung aus der Küche zum Erschießungskommando in den Wald geschickt. Der Koch von Idi Amin lernte bei den englischen Kolonialisten kochen, der grausame Diktator liebte diese Küche. Und egal, ob er vor oder nach der Mahlzeit ein paar Landsleute hat umlegen lassen, er hat sich nach jedem Essen bei seinem Koch bedankt. 


Moshe Zimmermann: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg

9. April 2024

Wie immer sehr nüchtern, der israelische Historiker, der sich keinen Illusionen hingibt: „Was ich in diesem Buch anzubieten versuchte, bezeichne ich als konstruktiven Pessimismus“. Er geht mit Deutschland hart ins Gericht. *Israels Sicherheit ist Teil der deutschen Staatsräson“, sagte Angela Merkel 2008 vor der Knesset. Aber was bedeutet das Versprechen? Hätte sich Deutschland, hätte sich die EU, natürlich vor allem die USA nicht vermehrt dafür einsetzen müssen, dass mit den Palästinenser verhandelt wird? Alles was Netanjahu und seine Leute anrichteten, hat man durchgewinkt. Sicherheit Israels aber sind nicht nur U-Boote. Die Unterstützung galt einer rechtsextremen Regierung.

Der 7. Oktober ist für ihn nicht weniger als das Versagen des Zionismus, dessen Ziel es war, „dem jüdischen Volk…eine gesicherte Heimat… zu verschaffen“.

Ausführlich schildert er den Aufstieg der Religiösen, die sich schliesslich mit den Nationalisten zusammentaten, um die Gerichtsbarkeit zu schwächen. Der Vorgang erinnert ihn an Münchhausens Schlittenfahrt. Ein mächtiger Wolf wirft sich auf das galoppierende Pferd, frisst es von hinten her auf und befindet sich schliesslich selber im Geschirr, das den Schlitten zieht.

 

Zukunft. Für Zimmermann gibt es nur die Zweistaatenlösung. Ein jüdischer Staat mit einer palästinensischen Minderheit und ein palästinensischer Staat mit einer jüdischen Minderheit. Eine, sagen wir, sehr israelische Perspektive: Wie muss man sich das vorstellen? 700‘000 jüdische Siedler, die nur ein Gross-Israel im Kopf haben, plötzlich zufrieden in einem palästinensischen Staat, der mit einem Gross-Israel überhaupt nichts am Hut hat. Wie sagt Zimmermann? „konstruktiver Pessimismus“.


Marc Agron: La vie des choses

13. März 2024

Ein sehr erfolgreicher Schriftsteller verliert die Gunst der Leserschaft, der Kritik und des Verlegers. Dann aber, nach Jahren, kommt er mit einem Manuskript, das die Verlagsmitarbeiter in helle Begeisterung versetzt. Mit dem alten Namen können wir das nicht mehr bringen, meint der Verleger, erfindet einen neuen Namen und verpflichtet den Autor, abzutauchen. Was der auch tut und paar Jahre in New York lebt, unter neuem Namen. Schliesslich beschliesst er, auch chirurgisch eine neue Identität zu nehmen. Und kehrt dann nach Europa zurück.

Marc Agron, geboren 1963 in Zagreb, kam mit 19 in die Schweiz, studierte in Neuenburg und führt heute ein Buchaniquariat und eine Galerie in Lausanne.

 


Catherine Lovey: histoire de l'homme qui ne voulait pas mourir

11. März 2024

Eine ganz einfache Geschichte. Der Mann in der Nachbarswohnung erkrankt. Jetzt sind wir manchmal mit der Erzählerin und fragen uns, wie weit geht man als Nachbarin? Wir sind nicht verwandt, wir sind keine Freunde und wollen es auch nicht werden. Und manchmal sind wir mit dem Mann, den die Krankheit immer mehr in Griff bekommt, aber das vor der Nachbarin leugnet, ihr nicht zur Last fallen will. Catherine Lovey kann das gnadenlos genau erzählen und gleichzeitig schwingt von Seiten der Nachbarin Heiterkeit mit.  


Jérôme Meizoz: Faire le garçon

4. März 2024

Die ungeraden Kapitel tragen den Titel “Enquête”. Darunter sind verschiedene Dokumente, Erinnerungen, Zeugnisse versammelt. Da drückt der Soziologe und Bourdieu-Schüler Meizoz durch. Es werden Determinismen und Zuordnungen von Männlichkeit (im Wallis des 20. Jahrhunderts hinterfragt.

Die geraden Kapitel heissen “Roman”. Meizoz schildert die Reise eines sensiblen und einsamen jungen Mannes, der die ihm auferlegte männliche Rolle ablehnt. Dieser “Junge mit Mädchenherz” tauscht nun seine Zärtlichkeit mit vernachlässigten Frauen aus, bewahrt so seine Freiheit. Er prostituiert sich und betrachtet sein Geschäft als einen Akt der Liebe.

 

Wir lesen eine Sammlung von Fragmenten, von denen einige dokumentarischer natur sind, andere aus der Fiktion stammen. In beiden Registern gibt es eine Figur namens “le garçon” – auf der einen Seite eine fiktive Figur, auf der anderen ein teils autobiografischer Junge. Im Laufe der Geschichte überschneiden sich die beiden Figuren.  


Juri Andruchowytsch: Moscoviada

28. Februar 2024

Moscoviada ist 1993 erschienen und spielt in der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Erzählt wird die Geschichte des ukrainischen Literaturstudenten Otto von F. Ungemütliche Zustände im Wohnheim, Unmengen Alkohol, Konflikte unter den nationalen Gruppierungen. Dort hält Otto auch eine spontane Rede, in der er die Unabhängigkeit der Ukraine fordert und dafür Applaus erhält. Er gerät später in die Fänge des Geheimdienstes, stürzt buchstäblich immer tiefer in den Moskauer Untergrund, verliert sein Ticket für die Reise nach Kiew, Ratten, Kloake, Uebelkeit, Geheimdienstler, geheime Metrozüge – ein wilder Ritt durch die Unterwelt. Erschiesst schliesslich als Clown verkleidet, alle Mitglieder des Präsidiums, die da auch unterirdisch versammelt sind und sich als Popanze herausstellen. Am Schluss tötet er sich selbst, was ihn aber nicht daran hindert, nach Kiew zu reisen. Ein wilder und ungezügelter Abgesang auf das Imperium Sowjetunion. Man denkt an die Divina Commedia oder an Bulgakows Meister und Margarita. Das Buch ist 2006 deutsch erschienen. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt Andruchowytsch, dass er 1992 zum ersten Mal im Westen war und merkte, dass ihn seine westlichen Kollegen kaum verstanden: „Was denn für eine Ukraine? Was ist das? Ist die Ukraine denn nicht Russland? Was plappert er von einer ukrainischen Sprache? Die sind doch wirklich alle verrückt geworden in ihrem Osten!“ Weil zu dieser Zeit die imperialen Kräfte wieder erstarkten, meinte er, etwas dagegen tun zu müssen und tat was er konnte – dieses Buch schreiben. „Ich glaubte, sobald ich den Roman fertiggestellt hätte, wären alle imperialen Gespenster vertrieben und nur noch hölzerne Schaufensterpuppen übrig, aus denen Sägespäne rieseln.“


Jean-Pierre Rochat: La plage des pauvres

27. Februar

Es ist bereits der zehnte Erzählband, der beim Pariser Verlag „La Chambre d’échos“ herauskommt. Im Untertitel: „Hunde-Mäteli“. Es geht um die Seematte in Nidau am Bielersee. Französisch: Plage des pauvres, ganz offizell. Man kann sich die Menschen, von denen die Geschichten erzählen, gut auf dem Hundemätteli vorstellen. Oder sie gehen grad dorthin oder kommen von dort. Einfache Leute, Leute am Rand von allem, überforderte Menschen, Betrunkene und Habenichtse.

„Tristesse et Désespoir sonnent à ma porte: bonsoir, on vient pour la visite. Quelle visite ? La visite des vieux seuls et mal nourris. Je ne suis pas seul, ni mal nourri. Peu importe, nous passons la porte. C’est contagieux vos sales gueules ? Très. »

« Le repas le moins cher c’est d’aller piquer un quignon de pain à la colonie des cygnes et une boîte de thon à l’huile dans la réserve derrière chez Denner. »

 

Konnte der Erzähler in früheren Erzählungen bei den Frauen noch landen, ist er inzwischen doch auch etwas älter geworden und erntet im besten Fall etwas Mitleid. 


Monika Helfer: Löwenherz

27. Februar 2024

Es ist Monika Helfers drittes Buch über ihre Familie. Diesmal über ihren Bruder Richard, der sich mit dreissig Jahren das Leben nimmt. Sie erzählt, wie er die hochschwangere Kitti vor dem Ertrinken im Bodensee rettet und prompt zum Vater ihrer Kinder erklärt wird. Eine sehr berührende Geschichte, wie Richard und das Kind, das immer Putzi genannt wird, aneinander hängen, einander lieben. Berührend, dieser Richard, wie er freundlich, kindlich, autistisch? durchs Leben geht. Ein „Schmähtandler“ ist er. „Spundus“ – ein anderer Austriazismus oder „präpotent“. Auch der Name des Hundes ist nicht gewöhnlich, er heisst Schamasch (nach dem babylonischen Sonnengott, dem Gott der Gerechtigkeit und des Wahrsagens).


Florian Illies: Zauber der Stille

16. Februar 2024

Illies macht Provenienzforschung. Unglaublich, was er alles zusammenträgt, wunderbar, alle Bezüge und Kontexte. Dabei lernt man Friedrich besser kennen. Auch seine Zeit, die mit seinen Bildern nicht viel anfangen konnte. Lustig seine Beziehung zu Goethe, den er masslos bewunderte und um seine Anerkennung kämpfte. Dieser aber konnte nichts mit ihm anfangen und hielt ihn sich vom Leib. Erhellend, wie Bilder völlig anders interpretiert, angesehen werden können. Zwei Beispiele:

Heinrich von Kleist schrieb über das Bild „Mönch am Meer“: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt… wie die Apokalypse da.“ Die Aussichtslosigkeit, die Kleist in Friedrichs Bild erkennt, ist seine eigene. Wenige Monate später tötet er sich, auf einem kleinen Sandhügel (wie der Mönch am Meer) am Rande des Kleinen Wannsees bei Berlin. Das Bild von Caspar David Friedrich als Bühnenbild „und in radikalster Konsequenz  zu Ende gedacht.“

Friedrich Wilhelm von Preussen verliert 15jährig seine Mutter, die Königin Luise und versinkt in Trauer. Drei Monate später eröffnet er mit seinem Vater die Akademieausstellung in Berlin und geht an der Seite seines Vaters teilnahmslos durch die Räume.  Da fällt sein Blick plötzlich auf ein ungeheures Bild. Der Kronprinz sieht den „Mönch am Meer“.  Er wünscht sich das Bild, der Vater kauft es. „Wie kann es sein, dass ein und dasselbe Bild von einem einsamen Mönch am Meer den einen Menschen, den Kronprinzen, in tiefster Trauer trösten kann – und den zweiten, Heinrich von Kleist, hinabgleiten lässt in den tödlichen Sog der Einsamkeit und Untröstlichkeit.“

Am 31. Januar 1937 besucht der irische Autor Samuel Beckett Dresden und sieht „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ und schreibt:  „Schöne Vorliebe für 2 kleine, müde Männer in seinen Landschaften, wie in der kleinen Mond-Landschaft, die einzig noch akzeptable Form der Romantik: Das ganze in Moll.“ In den 1970er Jahren verrät er: „This was the source for Waiting for Godot“.  „Aber wie kann es eigentlich sein, dass es in Becketts Stück, dem bedeutendsten des absurden Theaters, um das sinnlose Warten zweier Menschen auf einen inexistenten Godot geht und beide verloren sind in der Landschaft und in der Welt – und dass ebendieses Stück inspiriert ist von dem Bild des Malers, das die genau gegenteilige Botschaft hat? Wir sehen bei Friedrich zwei Menschen, die geborgen sind in der Landschaft und die wissen, dass ihr Warten auf den existierenden Gott Erfüllung finden wird.“

(Die Bilder kann man auf google schauen)

Mönch am Meer bei Caspar David Friedrich Poster Caspar David Friedrich - Zwei Männer betrachten den Mond (1830) - Samsung Frame TV Art - Berühmte Kunst, Pastellfarbe, Bauernhaus Wanddeko

Hab ich vom Dominik zum Lesen bekommen!


Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff

2. Februar 2024

Es gibt Erzähler und Erzähler. Und so einer ist Köhlmeier. Er mixt gekonnt Fabuliertes, Fantastisches und Tatsächliches. Hintergrund der Geschichte sind die Ausbürgerungen Intellektueller aus der Sowjetunion, u.a. per Schiff. Trotzki schrieb: „Wir haben diese Leute ausgewiesen, da es keinen Anlass gab, sie zu erschiessen, aber sie noch länger zu ertragen, war unmöglich.“ (Felix Philipp Ingold (Romainmôtier) hat darüber schon im Jahr 2000 geschrieben. Hat sich Köhlmeier da inspirieren lassen?) Köhlmeier bietet nur ein Schiff auf und es sind auch nur zwölf Personen (davon ein Mädchen) an Bord. Nach kurzer Fahrt hält das Schiff auf offener See an und allmählich wird uns Lesern klar, dass Lenin an Bord gebracht wurde. Das Mädchen entdeckt ihn und führt nächtliche Gespräche mit dem schon ziemlich gebrechlichen Lenin. Köhlmeier sagt in einem Interview, dass er alle seine Texte seiner Frau Monika Helfer (auch Schriftstellerin) vorliest. Was mündlich nicht passt, wird korrigiert. Das merkt man.  


David Grossman: Frieden ist die einzige Option

2. Februar 2024

Wie das halt Verlage so machen – aus gegebenem Anlass versammeln sie von einem bekannten Autor Reden, Aufsätze, Artikel. Die Texte hier sind aus den Jahren 2017 bis 2023. Der Titel stammt allerdings nicht aus einem Text von 2023. Er steht am Ende der Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz 2017. In dieser Rede appelliert er auch an alle „rationalen“ Länder: „Wir brauchen Ihre Hilfe“. „Wenn Ihnen Frieden und Sicherheit wichtig sind, dann unternehmen Sie etwas, um Israel und die Palästinenser aus dem Kreislauf der Selbstzerstörung zu erretten.“  Es wollte niemand etwas unternehmen. Die letzten Texte sind Trauerreden und davor, zu Beginn des Jahres 2023, ein Aufsatz anlässlich des „Umsturzes des Justizsystems“. Grossman, der seit über vierzig Jahre gegen die Besatzung kämpft, muss anerkennen: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Israelis schlicht nicht in der Lage, sich der Tatsache der Besatzung zu stellen.“ In einem Aufsatz vom Juni des gleichen Jahres macht er sich Gedanken darüber, was ein jüdischer Staat ist: „Ein jüdischer Staat ist die nationale Heimstatt aller Juden, der die volle Gleichberechtigung aller seiner Bürger als entscheidende Prüfung seiner Humanität und als Erfüllung der Visionen seiner Propheten und Gründerväter betrachtet.“


Alex Capus: Susanna

2. Februar 2024

Ich habe Verspätung. Es gibt ja inzwischen einen neuen Capus-Roman, aber der ist immer noch gut. Vorlage ist die Lebensgeschichte von Susanne Carolina Faesch aus Basel. Aber der Romanautor nimmt sich viele Freiheiten heraus, zum Glück. Eine ganz verrückte Geschichte mit dem „Wilden Mann“ in Basel, dem die kleine Susanne ein Auge aussticht, dann die Reise nach Amerika mit ihrer Mutter, die Begeisterung für die Indianer. Alles erzählt mit viel Witz und Zuversicht.


Juri Andruchowytsch: Der Preis unserer Freiheit

2. Februar 2024

Gesammelte Essays, Reden und Artikel aus den Jahren 2014-2023. Andruchowytsch spricht gut deutsch und war häufig auch in der Schweiz. Und schon seit langem sah er die Zukunft der Ukraine in Europa, auch zu einer Zeit, als man noch meinte, sein Land sei doch eine gute Pufferzone zwischen Russland und der EU. Hier nur zwei Ausschnitte. Der erste aus einem Artikel der NZZ 2014. Andruchowytsch erzählt von spanischen Bauern, die aus Protest eine Europafahne verbrennen, was ihn zu folgender Bemerkung bringt: „Ein gutes Beispiel dafür, dass auf dieser Welt weiter Verständnislosigkeit herrscht. Die einen wollen nicht einmal auf ein paar Cent ihres Wohlstandes verzichten und verbrennen wütend das Symbol des SYSTEMS, das beschlossen hat, diesen Wohlstand zu begrenzen. Die anderen sterben unter diesem Symbol einen alles andere als symbolischen Tod, denn der Wert der Fahne bemisst sich für sie weder in Cent noch Euro. Diese Fahne ist überhaupt unbezahlbar, denn hier und jetzt, auf diesem Maidan, steht sie für nicht weniger als für die Menschenwürde. Mehr noch - für–den Sinn des Daseins.“ In einem Vortrag 2022 sagt er: „Der russisch-ukrainische Krieg, der im Februar 2014 auf dem Kiewer Maidan begann und genau acht Jahre später zur Grossinvasion wurde, ist durch einen entscheidenden Antagonismus gekennzeichnet: Während die Ukraine um ihre Zukunft kämpft, kämpft Russland um seine Vergangenheit.“


Charles Enderlin: Israël. L'agonie d'une démocratie

26. Januar 2024

En deux mots: Es gibt einen demokratischen und einen messianischen Zionismus. Jetzt hat in der Regierung, mit Netanjahu, der messianische die Oberhand.

Der Grossrabiner Abraham Isaac haCohen Kook liefert dazu ein biblisches Gleichnis. Manchmal benutze nämlich die Geschichte Elemente ausserhalb der Tora. Also: der Prophet Zacharias sagt: „Freut euch, ihr Menschen auf dem Berg Zion, jubelt laut, ihr Einwohner von Jerusalem! Seht, euer König kommt zu euch! Er ist gerecht und bring euch Rettung. Und doch kommt er nicht stolz daher, sondern reitet auf einem Esel, ja, auf dem Fohlen einer Eselin.“ Heisst für den Grossrabiner: Die nichtgläubigen Juden sind das Fohlen, auf dem der Messias kommt.  Viele Jahrhunderte später meinte ein Anderer, in einem anderen Zusammenhang zu diesem Vorgang, sie sind die nützlichen Idioten. (Genau, der Evangelist Matthäus lässt Jesus diese Prophezeiung erfüllen und auf dem Esel in Jerusalem einziehen).

 

Man kann nur über die Kraft der Erzählungen in allen Religionen staunen. Wenn sie in die Hände der Mächtigen kommen, gibt es kein Halten mehr. Jüngstes Beispiel: Premier Modi weiht in Ayodhya auf den Ruinen einer Moschee, einen Hindutempel ein, ein Schritt mehr vom säkulären Indien zum hindunationalistischen Staat.  


Martha Schüpbach: Zimmermeitschi bim Herr Hesse

19. Januar 2024

Vom Hesse-Haushalt erfahren wir wenig. Dem Zimmermeitschi ist aber aufgefallen, dass Herr und Frau Hesse über Zettelchen kommunizierten, die sie in der Mitte des Hauses deponierten, denn im einen Teil wohnte Ninon, im anderen Hermann. Auch musste immer viel geputzt werden.  Vor allem aber erzählt sie vom Leben auf dem Hof im Emmental. vom Höiet, etwa: „Meischens hii mer ja müesse e Schwir i d Rad stosse bim Höischnägge, dass si numme no zybet sy u nümme umgange, wiu mer a so stotzigi Börter ghöiet hii. U de het gäng no iis müesse uf d Stange hocke, dass d Schnääre sy s Bode cho u hii ghuufe brämse.“


Alain Freudiger: Arpenté

19. Januar 2024

Alain Freudiger erinnert sich an seine Kindheit. Das macht er sehr ausführlich, beschränkt sich auf den Beginn der Erinnerungen mit drei Jahren bis zu seinem siebten Lebensjahr.  Erstaunlich, woran er sich alles erinnern kann. Es sind fast alles schöne Erinnerungen, die Strasse, die Zäune, die Traktoren, die Kameraden, die Zäune, der Wald.  Die Gerüche und Farben. Alles im Gros-de-Vaud in den 80er Jahren.  Eine sehr ländliche Welt des Pastoren-Sohns. Geschildert wird in der Ausführlichkeit eines sehr genauen Ethnografen. Man erinnert sich an Chessex’s Portrait des Vaudois, Porträt hier eines Kindes in der gleichen Landschaft, mehr als 50 Jahre später. 


Jon Fosse: Morgen und Abend

19. Januar 2024

Erzählt wird  der Tod, sein eigener, mit Erscheinungen, Erinnerungen, Begegnungen. Aber vorher schildert er noch eine Geburt. Das reicht. Wenn mal über die ersten zwanzig Seiten ist,  entsteht ein schönes Lesevergnügen.  


Edmund de Waal: Camondo

2. Januar 2024

Edmund de Waal hat uns ja mit dem „Hase mit den Bernsteinaugen“ begeistert. Hier kehrt er wieder nach Paris zurück, ins 8e, in die rue de Monceau. Da residierten die Ephrussis und nur ein bisschen weiter die Camondo. Und wieder geht es um wahnsinnigreiche Juden und wieder kamen sie aus dem Osten, diesmal nicht aus Odessa, sondern aus Konstantinopel. Und wieder assimilierten sie sich total und sahen in der französischen Zivilisation und Kultur das Grösste. Sie engagierten sich à fond im kulturellen Leben. Maler und Schriftsteller gingen bei Camondos ein und aus. Proust und Manet, usf. Französischer und patriotischer als die Camondos konnte man nicht sein. De Waal wählt hier die Briefform. Er wendet sich in fiktiven Briefen an Moïse Camondo, geht durch seinen Prachtpalast, den er sich hat erbauen lassen, schildert all die Schönheiten mit dem Blick des Keramikers, des Handwerkers, der de Waal auch ist. Und zum Schluss dann der Hammer, die kommen nach Auschwitz, die Familie wird ausgelöscht (Moïse stirbt 1935 und vermacht das Palais der Stadt). Und da gibt es noch einen Zürichbezug. Das Bild „La petite Irène“ von Renoir aus der Bürlesammlung, diese Irène war die Frau von Moïse Camondo und ihr Sohn Nessim kam im Ersten Weltkrieg ums Leben und sein Vaterhaus ist heute ein Museum, ein üppiger Palais des 18. Jahrhunderts.

Jakob Arjourni: Der heilige Eddy

7. Januar 2024

Ein Fund im welschen Brockenhaus. Sehr effizenter Text. Da geht was. Originelle kriminelle Energie. Und wehmütiger Schluss im Gefängnis.