Marc Agron: Mémoire des cellules

8. November 2019

Ein Kulturjournalist wird an die Biennale von Venedig geschickt und er bleibt ratlos vor einer Installation zurück, die nichts anderes als ein grosses Wasserbassin ist. Ratlos – besser gesagt eher wütig auf die herrschenden Diskurse der Kunstsachverständigen & Co über das, was sie als Kunst bezeichnen.  Er macht sich auf, um mit der Künstlerin in Kontakt zu treten. Das nimmt dann ein Ende, das im Titel des Buches dunkel angedeutet ist. Der Autor führt selber auch eine Galerie…


Robert Seethaler: Das Feld

29.10.2019

„Das Feld“ ist der Friedhof von Paulstadt. Uns wird die Geschichte dieser Stadt erzählt, aber ausschliesslich aus der Perspektive jener, die schon an dem Feld liegen. Das sind 29 Erzählungen von 29 Paulstädtern, die sich zum Teil kennen – oder auch nicht. Ganz beiläufig entstehen rührende und skurrile Lebensgeschichten von Menschen die altersmüde gestorben sind, sich umgebracht haben oder sonstwie aus dem Leben geschieden sind. Grossartig gemacht.


Petri Tamminen: Meeresroman

26. Oktober 2019

Die Geschichte von einem Pechvogel. Er versenkt eines ums andere Schiff. Aber – jetzt kommt das Aber: er bleibt dabei völlig gelassen. Das ergibt eine zwar tragische, aber auch komische Geschichte des Kapitäns Vilhelm Huurna. „Glück ist Glücksache“, heisst es mal – und als er sein letztes Schiff nicht versenkt, aber doch arg beschädigt, kommt ihm „das Missgeschick geradezu sanft vor“. Vilhelm Huurna ist mein Held! 


David Leavitt: Späte Einsichten

7.10.2019

Die Geschichte spielt in Lissabon. Die Stadt war in den 40er-Jahren zeitweise der einzige Ort in Europa von dem aus Juden nach Amerika ausreisen konnten. Schon einfacher war es für amerikanische Staatsbürger. Um die geht es. Zwei Paare, die in Paris als Expats arbeiteten und vor Hitler fliehen. Eine der Frauen ist Jüdin, aber das spielt eine untergeordnete Rolle im Roman.  Eigentlich geht es um eine Beziehungsgeschichte, eine Schwulengeschichte. Die ist nun nicht so hinreissend. Aber man kann den Beschreibungen von Lissabon unter Salasar etwas abgewinnen. 


Guy Delisle: Pjöngjang

30.9.2019

Wusste ich gar nicht: viele Trickfilme werden in Nordkorea hergestellt. Da findet man die billigsten Zeichner und Animationskünstler. Viele europäische Filme entstehen in Pjöngjang. Neben der community der expats der UN-Organisationen und der NGOs gibt es dort also auch jene der Animationsfilmer. Guy de Lisle war als Vertreter einer französischen Produktionsfirma in Nordkorea und erzählt von seinen Erlebnissen. Ziemlich schräg alles.


Grimoald Karrer: Am Anfang stand die Frage

30.9.2019

Betrachtungen, wie es im Untertitel heisst, trifft den Inhalt. Fast eine verdichtete Aneinanderreihung von Aphorismen. Friedrich, das Alter-Ego vom Autor hangelt sich auf alle erdenklichen Arten von Thema zu Thema, von Geschichte zu Geschichte, von Betrachtung zu Betrachtung. Manchmal lässt er sich vom Klang leiten, etwa: Osterglocken-Ei-Spiegel-Shanghai, manchmal sind es Autoren seiner Bibliothek, die er häufig nur ganz kurz zitiert oder erwähnt. „Ich kenne Friedrich“ meint der Erzähler, „grosser Denker ist er keiner, aber ein Gourmet.“ Das geht also von Sokrates über Descartes, von Eugen Roth über Erich Fried, zu John Williams Stoner zu Fräulein Smillas und dessen Gespür für Schnee und zu Canetti: „Mein lieber Herr Canetti! Keine Blendung!“ „Er fischt“, erfahren wir von Friedrich, „ohne lange zu faseln, Sätze, die ihm gefallen, aus einem Text heraus, er stiehlt sie ganz einfach. Ob das denen passt oder nicht, ist ihm wurscht. Er schiebt sie zwischen die Zeilen, fügt sie nach Belieben ein, frech, für alle sichtbar, bläht voll Stolz über diese Cleverness seinen Brustkorb, plustert sich auf wie ein Hahn, ein Muskelprotz, der für die Show übt.“ Geradezu zugeschnitten auf die Kritikerherren an Greta Thunberg gemahnt Peter Ustinovs Zitat: „Wir alten Männer sind gefährlich, weil wir keine Angst vor der Zukunft haben.“  Natürlich erinnert Friedrich auch an die Geschichte, die neuere vor allem, bleibt nur kurz bei den Themen und überlässt es dem Leser, der Leserin, weiterzugehen. Etwa bei der Geschichte vom Nazi-Arzt Heinrich Gross, der in der Klinik am Spiegelgrund in Wien Kinder zu Tode quälte, verhungern liess, zu Tode therapierte. Der Mann hat nach dem Krieg eine tolle Karriere hingelegt, nicht zuletzt mit Unterstützung des Bundes sozialdemokratischer Akademiker. Erst als er eine Habil präsentierte, die er aufgrund der Hirnpräparate von damals erstellte, wurde es dann doch einigen zu viel. Eine unglaubliche Geschichte. Die Betrachtungen sind meist schwarz, alle und alles bekommen ihr Fett weg, inkl. die Pfaffen und der liebe Gott. Eine Stimmungslage so zwischen Karl Kraus und Thomas Bernhard. Treffend heisst es von ihm: „Friedrichs Ego benimmt sich wie ein Hahn auf dem Misthaufen, der sich über seine schmutzigen Füsse beschwert.“ Wer noch nie etwa vom Autor gehört hat, ist in bester Gesellschaft. Ich bekam das Buch zufällig in die Hand, der Autor ist der Onkel von meinem Cousin Heribert Karrer. Aber ist nicht das Schöne an der Literatur, dass sie überall entstehen kann, auch fernab von allen professionellen Kritikern. Und dieses Buch ist dicht, mitreissend und frech. Wäre eigentlich zu entdecken. 


Maya Angelou: Ich weiss, warum der gefangene Vogel singt

1. September 2019

Aus der Reihe der Bücher, die ich schon vor 50 Jahren hätte lesen sollen. Es ist 1969 erschienen. Maya Angelou (Marguerite Johnson) erzählt ihre Kindheit. Die Kindheit eines schwarzen Mädchens im Süden der USA. Die Frau, 2014 gestorben, zählt zu den wichtigen Figuren der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner. Das Buch ist auch heute noch grossartig zu lesen und Franz hat es mir empfohlen und ausgeliehen.


Thomas Hürlimann: Heimkehr

1. September 2019

Eine Groteske, ein Schwank, aber der gehobenen Sorte. Ein Mix von Odysseus und Verlorenem Sohn, angereichert mit Anspielungen des Zürcher Kulturlebens (für jene, die das interessiert), eine Rokokooper direkt aus Einsiedeln und das über 600 Seiten. 


Annie Ernaux: Passion simple

7. August 2019

Ein kurzer Text und wie immer, klinisch, kalt, trocken, minimalistisch. Es geht nur darum, dass die Autorin/Erzählerin tagein tagaus auf ihren Liebhaber wartet. Er kommt wann er will, meldet sich wann er will. In der Vor-Handy-Zeit. Das heisst zu Hause bleiben und auf einen Anruf warten, von der Telefonkabine aus telefonieren, damit die Ehefrau den Anruf nicht zurückverfolgen kann. Eine doch sehr unerträgliche Situation, aber die Frau beklagt sich nicht.  Annie Ernaux dazu: „Je n’avais jamais écrit sur la passion : pour schématiser, j’étais l’écrivain social. C’était une rupture et la question était : écrire comment ? Je me retrouvais devant une matière neuve et je savais que je n’allais pas écrire une « histoire d’amour », que j’en étais incapable. J’ai été cette femme traversée par cette passion. Que fait-elle ? Que pense-t-elle ? Comment se comporte-t-elle ? C’est cela, Passion simple. Je décris en objectivant tout en employant le « je ». J’écris aussi sur l’écriture de la passion et sur le temps." (Éditions de la Bibliothèque publique d’information/Centre Pompidou, 2010)


Francesca Melandri: Alle, ausser mir

5. August 2019

Ich habe von ihr „Eva schläft“ gelesen und war begeistert. Das ist ein Südtirol-Roman, ich habe viel über die Gegend und die Zeit gelernt. In diesem Roman geht es wieder um Geschichte, um die Kolonialgeschichte Italiens. Die Erzählung spielt allerdings 2010. Ein Mann aus Äthiopien steht plötzlich vor ihrer Tür von Ilaria und sagt: "Wenn Attilio Profeti dein Vater ist, dann bist du meine Tante." Ilaria Profeti ist Lehrerin, die Stück um Stück die Geschichte ihres Vaters entdeckt. Zuerst mal, dass er ein Parallelleben führte, zwei Familien hatte. Aber auch sie lebt zwiespältig, sie und ihr Bruder haben sich Wohnungen vom Vater schenken lassen und nicht gefragt, woher denn das Geld kam und ihr Lover ist für Forza Italia im Parlament. Wir verfolgen also die Flucht von Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti, der aus Äthiopien nach Italien vor Ilarias Haustür gelangt - und das über die Wüste, das Lager in Libyen, das Mittelmeer nach Lampedusa, bis nach Rom. Gleichzeitig wird uns der Aufenthalt von Attilio Profeti, Ilarias Vater, in Äthiopien während der Zeit des Faschismus,  geschildert. Alles ziemlich furchtbar.  Der Vater entpuppt sich als überzeugter Faschist, der in Äthiopien einen Sohn zeugte und nie anerkannt hat. Das alles spielt sich an den vier Tagen ab, an denen Berlusconi den Diktator Muammar al-Gaddafi empfing. Melandri schildert ein Italien, das sich nicht an die eigene Geschichte erinnert.  Die 600 Seiten sind voll gepackt mit Geschichte. Geschichte des italienischen Kolonialismus, des Rassismus. 

 


Peter Egloff (Hg): Passion. Bilder von der Jagd

1. August 2019

Das ist der dicke Katalog zur Ausstellung im Bündner Kunstmuseum unter dem gleichen Titel. Herausgegeben von Peter Egloff und Stefan Kunz. Gleich zu Beginn eine Reihe von Bildbetrachtungen von Peter Egloff, einer der wenigen Jägern unter den AutorInnen. Diesen Jäger vor Bildern möchte man eigentlich gar nicht gehen lassen. Ich würde dem noch lange folgen. Mit seinen Augen die Bilder erkunden. Zum Glück kommen später noch andere Bildleser dazu und man lernt auch die Bilder selber zu lesen. Sehr gut gefallen hat mir auch das Gespräch mit Hans-Jörg Blankenhorn, dem früheren höchsten Schweizer Jäger. So nahe ist man sonst nie im Buch am Weidhandwerk. Dann kommt einem auch eine geballte Ladung von Psychoanalytischem entgegen. Da bin ich, selber Freudfreund, nicht immer so dabei. Mir scheint, dass diese AutorInnen noch sehr von einem Standpunkt ausgehen, wo der Mensch im Mittelpunkt steht. Hier bin ich und da draussen seid ihr, die Tiere. Natürlich redet man nett von diesen und man vermenschlicht sie auch nicht. Aber sind wir nicht schon ein paar Schritte weiter heute? Ist das anthropozentrische Weltbild nicht am Ende? Ist der Mensch noch im Mittelpunkt? Nicht eher schon das Klima, die Arten? Hiesse das nicht, dass wir die Tiere auf einer ganz anderen Ebene sehen müssten? Als Mitgeschöpfe, würden die Theologen sagen?

Der Direktor vom Pariser Jagdmuseum steuert eine Frevelgeschichte der Klassik bei, die ich  sehr gern gelesen habe und Maurice Sass geht den Jagd-Metaphern nach. Spannend zu lesen die Ueberlegungen Roland Bourgards zur Repräsentation von politischer Herrschaft durch Jagd. Jessica Ulrichs Aufsatz fand ich ungemein fleissig. Da sind so viele Ansätze drin (und ein schöner Zwischentitel: Traurige Trophäen, hätte Claude Lévy-Strauss gefallen).  Auch Stefan Kunz habe ich gerne gelesen, die Inszenierung der toten Tiere. Und ich weiss gar nicht mehr wer hat mir beigebracht, dass die ersten Jäger wohl gar nicht als Nahrungsbeschaffer auf Jagd gingen, sondern um der Geliebten mit einem fetten Hasen zu imponieren („oh was bist du für ein toller Mann und Jäger! So ein schönes Tier! Ganz für mich alleine!“ Und für sich gedacht hat sie: „Ich mag doch gar kein Chüngel. Kann der nicht mal was Richtiges heimbringen“;);)).

Dazwischen natürlich viele Bilder, die die Ueberlegungen weiterführen. Dazwischen Schriftstellerzitate aus der ganzen Literaturgeschichte, von Ovid bis Niklaus Meienberg. Und dann auch Postkarten, die wahnsinnige Fürsten und Herrscher zeigt, stolz vor der Strecke posierend. Ein besonderer Leckerbissen ist der Bildteppich von Sarnen. Maria in einem Garten und rundherum verschiedene Wildtiere, natürlich biblisch, mystisch zu erklären. Etwa ein Einhorn, das vor Maria erstochen wird und dessen Blut in einem Kelch aufgefangen wird.

 

Wer sich für die Jagd, auch für das dafür und dagegen interessiert, sollte die Ausstellung in Chur sehen – und sich das Buch zu Gemüte führen, mit Gewinn.  


Musée Epinal (Hg): Image sur les murs

28. Juli 2019

Fernsehen ganz früher. Der Hausierer kommt mit den Flugblättern ins Dorf, moderiert Sex, Drugs, Heilige und Ablass an.
Im schon etwas bürgerlichen Haus schreitet man zur Auswahl der Bilder.
Und wer schon etwas mehr Bilder hat, kann auch was erzählen, etwa von den Heldentaten Napoleons.
Auf diese Flugblätter, diese frühen losen Drucke ist das musée de l'image in Epinal spezialisiert. Die Bilder hat man sich zusammengeklaut und Holzschnitte davon angefertigt. Auch bei Texten hat man sich frei bedient.
Gegenwärtig zeigt man die Wände, die man aus einem alten Haus in Bessans, in der Haute-Maurienne (Savoyen) herausgenommen hat. Sie sind mit solchen Drucken beklebt. Die Drucke stammen aus dem 17. Jahrhundert! Viele religiöse Motive, Ablassverfügungen, Texte, die von der Gegenreformation zeugen. Bessans liegt zwar auf 2000m, aber am Fuss des Mont-Cenis, einem Uebergang nach Italien. Es sind da viele Kapuziner und Jesuiten vorbeigekommen und haben der Bevölkerung ordentlich eingeheizt. Bessans ist nicht zuletzt bekannt geworden durch die Volkskunder Arnold van Gennep und Eugénie Goldstern. Pont Aven liegt in der Bretagne, auch dort wurden Flugblätter gedruckt und haben u.a. Gaugin inspiriert. 


Bruno Pellegrino: Là-bas, août est un mois d'automne

23. Juli 2019

Gustav Roud ist einer der grossen Dichter der französischen Schweiz (1976 gestorben) und darüber hinaus ein ausgezeichneter Fotograf. Philippe Jaccottet bewunderte ihn, ebenso Jacques Chessex.

Er lebte zusammen mit seiner Schwester zurückgezogen in Carrouge, im Haut-Jorat. Nun hat es ein junger Schriftsteller, Bruno Pellegrino, Jahrgang 1988, unternommen, den Dichter und seine Schwester Madeleine frei zu porträtieren. Wir sind in den 60er-Jahren, die dem jungen Schriftsteller schon sehr fern vorkommen. Es passiert fast nichts, aber wir erfahren viel vom Garten, dem Strassenbau, der ganz fein geschilderten Homosexualität von Gustav, von der Schwester, die sich um alles kümmert – und wie sie es tut. Ein Lesevergnügen.

 

 Gustav Roud ist einer der grossen Dichter der französischen Schweiz (1976 gestorben) und darüber hinaus ein ausgezeichneter Fotograf. Philippe Jaccottet bewunderte ihn, ebenso Jacques Chessex.

Er lebte zusammen mit seiner Schwester zurückgezogen in Carrouge, im Haut-Jorat. Nun hat es ein junger Schriftsteller, Bruno Pellegrino, Jahrgang 1988, unternommen, den Dichter und seine Schwester Madeleine frei zu porträtieren. Wir sind in den 60er-Jahren, die dem jungen Schriftsteller schon sehr fern vorkommen. Es passiert fast nichts, aber wir erfahren viel vom Garten, dem Strassenbau, der ganz fein geschilderten Homosexualität von Gustav, von der Schwester, die sich um alles kümmert – und wie sie es tut. Ein Lesevergnügen.

 


Lizzie Doron: Who the Fuck Is Kafka

21. Juli 2019

Lizzy Doron hat viel zum Thema der Holocaustüberlebenden geschrieben. Mit ihrer Mutter hatte sie ein gutes Beispiel. Dann, erst vor wenigen Jahren, hat sie angefangen, sich für die Palästinenser zu interessieren. „Sweet Occupation“ hiess ihr erstes Buch dazu. Jetzt im neuen Buch, das deutsch 2015 deutsch erschien und hebräisch erst jetzt kürzlich (!), erzählt sie von einer Freundschaft, die sehr schwierig ist, mit einem Palästinenser, den sie auf einem Kongress in Italien kennenlernt. Die Figur des Palästinensers ist aus mehreren zusammengesetzt, vermerkt sie ausdrücklich zu Beginn des Buches. Sehr gut gemacht sind die Schilderungen aller Fallstricke und Ungeschicklichkeiten, die sich in einer solchen Freundschaft ergeben. Deutlich auch die Spitzen gegen die gutmeinenden europäischen Versteher und Vermittler, die aber die Lage doch nicht so richtig verstehen. Ganz gut auch zu lesen, wie Leute aus der Tel Aviver Blase in Panik vor einem Anschlag geraten, wenn sie nach Ostjerusalem fahren sollten. Das Buch ist natürlich aus einer israelischen Perspektive geschrieben. Man ist selber fortschrittlicher, liberaler, aufgeklärter, etc. Die arabischen Frauen werden zwar respektiert, aber bedauert, sie dürfen ja nicht mal alleine aus dem Haus. Und wenn sich die israelische Armee oder die Behörden oder Siedler daneben benehmen, ist es eher eine Panne, oder eine kleine Minderheit. Palästinserseits hat das System, ist es das System. Die Autoritäten verhindern Kontakte, überwachen, usf. So verwundert es auch nicht, dass am Schluss gutmeinende Israeli sich am obersten Gericht mit Erfolg durchsetzen können, damit die Frau des Helden schliesslich eine definitive Aufenthaltsbewilligung für Jerusalem bekommt. Was auf der Gegenseite wiederum nur Kummer auslöst, weil sie sich von Israeli haben helfen lassen. Ich habe den Eindruck, dass die Anlage des Romans daran leidet, dass die Autorin die Konfliktparteien auf eine gleiche Ebene stellt. Das ist übrigens das, was an vielen Veranstaltungen zum Thema in Europa passiert. Beim Konflikt geht es aber nicht um zwei Jungs, die sich auf dem Pausenhof heftig streiten und sich dann die Hand geben und alles ist wieder gut. Hier geht es um eine allmächtige Besatzungsmacht und eine ohnmächtige besetzte Bevölkerung. 


Edouard Koschwitz: Les Français

20. Juli 2019

Das Buch hat mir in der Bibliothek von Fredi ins Auge gestochen. „Les Français“ – kurz und ergreifend. Endlich erklärt mir mal einer „Les Français“. Diese Völkererklärungen waren mal so richtig Mode und ich weiss, sie sind pfui. Aber ich habe zB mit grossem Vergnügen „L’esprit de Berne et l’âme de Fribourg“ von Gonzague de Reynold gelesen. Da sind nicht nur der Titel sondern auch der Autor pfui. Aber grossartig und nicht ohne. Mit „Les Français“ ist es ein wenig anders. Der Autor, Edouard Koschwitz, war ein deutscher Linguist und ein Franzosenfreund, ein Berner Gimi-lehrer hat ihn auf französisch übersetzt. Er fragt sich, 1797, nach dem deutsch-französischen Krieg, wie es so weit kommen konnte. Gleich in den ersten Sätzen stellt er fest, dass es nie zum Krieg gekommen wäre, hätten die Franzosen die Deutschen besser gekannt. Was nun der Autor macht, müsste für Historiker hoch interessant sein. Er sammelt Dokumente von vor, während und nach dem Krieg über die Deutschen, die Preussen und die Süddeutschen. Die Zitate reichen von Emile Zola bis zur Satirezeitschrift Charivari. Eine tolle Fundgrube, die einen umhaut, weil es ist alles dicke Post. Koschwitz kann also beinhart seine These belegen, dass die Franzosen ein völlig verteufeltes Bild von den Deutschen hatten, die ganze Zeit über – und dass diese Unkenntnis die Kriegserklärung erleichterte.  Jetzt könnte man Herrn Koschwitz natürlich entgegenhalten, dass es ennet dem Rhein wohl ähnlich bezüglich der Franzosen wohl ähnlich geklungen hätte… Auch die Theorie, dass wenn man sich kennt, man sich nicht bekriegt, ist auch nicht so eindeutig. Manchmal hat man sich auch den Kopf eingeschlagen, weil man sich sehr gut kannte.


Annie Ernaux: La place

30.6.2019

Annie Ernaux wurde im Gefolge von Eribons „Reise nach Reims“ „wiederentdeckt“. Ich hatte von ihr auch nie was gelesen. Bis jetzt. „La place“ hat man in einer Zugreise gelesen. Das Buch erschien bereits 1984. Sie erzählt von ihrem Vater, gemeinsam mit der Mutter hat er einen kleinen Laden mit Café geführt, nachdem er viele Jahre Arbeiter und früher Knecht war. Die Tochter geht auf die Uni und erfüllt die Eltern mit Stolz, aber sie entfernt sich gleichzeitig von ihnen und begreift das als Verrat. Ein Buch über Scham. Der Vater schämt sich, zu hoch hinauszuwollen und die Tochter schämt sich über ihre Herkunft. Annie Ernaux schreibt sehr nüchtern, sehr genau. Werde sicher noch mehr von ihr lesen. 


Jean-Pierre Rochat: Nebelstreif

25. Juni 2019

Nebelstreif – französisch hiess das Pferd petite brume. Das Buch gewann den Preis des „Roman des Romands“ 2019. Der Preis wird von Gymnasiasten vergeben. Sie lesen die Bücher im Wettbewerb und die Autoren kommen zu ihnen in die Klassen. In diesem kleinen Roman geht es um eine Gant, eine Versteigerung auf dem Hof. Mit jedem Werkzeug, mit jedem Tier verliert der Bauer ein Stück von sich selbst. Und am Schluss geht es dann um die Stute Nebelstreif. Die Uebersetzung besorgte Yla von Dach und sie machte das grossartig. Ebenso grossartig die Uebersetzung von Michel Layaz’s „Louis Soutter, sehr wahrscheinlich“. Das ist ein sehr gelungenes Porträt des aussergewöhnlichen Malers Louis Soutter, den man in ein Altersheim steckte. Beide Bücher sind jetzt neu zu haben. 


Yoshiharu Tsuge: l'homme sans talent

24. Juni 2019

Das Manga von Tsuge ist ein autobiographisches. Die gibt es noch nicht sooo lange. Es erzählt das Leben eines Versagers. Er versteht nicht, dass die Steine, die er im Fluss gesammelt hat, keine Käufer finden. Auch selber reparierte Fotoapparate lassen sich nur für kurze Zeit an Käufer bringen.  Dabei wäre er ein begabter Manga-Zeichner. Seine Frau versucht aber vergeblich, ihn wieder zu diesem Beruf zurück zu bringen. Ganz schön traurig und alles schwarz/weiss.  


Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

5. Juni 2019

Julian Barnes… was soll man da sagen. Ist einfach gut. Der Lärm der Zeit ist nicht der neueste Roman. Es ist eine Art Biografie von Dmitri Chostakovitch (1906-1975). Und nein, er fühlt sich nicht in seine Musik ein, versucht auch gar nicht, sie zu beschreiben. Sie spielt eigentlich keine grosse Rolle. Kann das gut gehen? Sehr gut sogar. Es geht vor allem um Feigheit, nicht jene, die man anderen vorwirft, sondern jene, die wir in klaren Momenten in uns finden. Man muss natürlich sagen, dass es unter Stalin als Komponist nicht einfach war, auch nicht unter Chrustschow, wenn auch anders.  Die westlichen „Humanitätsapostel“ haben ihn empört, Malraux, Feuchtwanger, Romain Rolland, Shaw. Sie hätten alle die simple Tatsache nicht begriffen, dass es in der Sowjetunion unmöglich war, die Wahrheit zu sagen und am Leben zu bleiben. „Die sich einbildeten, sie wüssten, wie die Macht funktioniert, und wollten, dass du dich dagegen zur Wehr setzt, wie sie es, so glaubten sie, an deiner Stelle tun würden. Mit anderen Worten, sie wollten dein Blut. Sie wollten Märtyrer zum Beweis der Bösartigkeit des Regimes.“ Er, und viele andere unterlagen einer unnachgiebigen Logik. „Wer sich selbst rettete, konnte auch die Menschen um sich herum retten, die Menschen, die er liebte. Und da man alles auf der Welt tun würde , um die Menschen zu retten, die man liebte, tat man auch alles auf der Welt, um sich selbst zu retten. Und weil man keine Wahl hatte, gab es auch keine Möglichkeit, der moralischen Korruption zu entgehen.“ Jeden Morgen soll Chostakovitch statt eines Gebets ein Gedicht von Jewtuschenko aufgesagt haben:

„Ein gelehrter Mann zu Galileos Zeit

Wusste sie Galileo Bescheid:

Die Erde dreht sich, ganz bestimmt,

 

Jedoch er hatte Weib und Kind!“


Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz

26. Mai 2019

Eine ordentliche Rezension findet man in der WoZ: www.woz.ch/-95ad. Ganz grossartig fand ich den ersten Teil des 600-Seiten-Schunkens – die mikrohistorische Geschichte von St-Imier. Wir erfahren nicht nur, wer in dieser verrückten Zeit, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Total alles zugewandert und abgewandert ist, es wird uns genau vor Augen geführt, welche Gruppen wann und warum zu- oder wegzogen. Mit Blick in die Archive von St-Imier und Courtelary. Da war einmal als rasante Aufkommen der Uhrenindustrie (vorher Uhrenhandwerk). Dann auch der Bau der Eisenbahnlinie von Biel nach La Chaux-de-Fonds. Man macht sich keinen Begriff, was damals da oben los war. Ja, und dann die Sache mit den Anarchisten. Das war eine ganz kurze Zeit, zehn, fünfzehn Jahre. Namen, die wir immer in diesem Zusammenhang wiederholen, wie Bakunin etwa, waren in dieser ganzen Geschichte gar nicht so bedeutend. Vielmehr die Einheimischen, wie etwa Schwitzgebel. Erstaunlich, das Netz, das die Leute damals über ganz Europa spannten. Viele Treffen fanden ganz hinten im Tal von Renan statt, in Les Convers. Da kamen die Kameraden und Compagnons von sehr weit her. Die wichtigsten Archivbestände zur Anarchisten-Geschichte in St-Imier befinden sich in Amsterdam und Cadiz. Wer heute mit dem Auto durch den Tunnel Richtung Pruntrut fährt, dem öffnet sich während der Fahrt ein Tageslichtfenster von zwei Sekunden –genau dort liegt Les Convers. Von den ganzen Auseinandersetzungen, was nun der richtige Sozialismus und was der richtige Anarchismus und was der richtige Anarcho-syndikalismus ist, darüber schreibt Florian Eitel auch ganz ausführlich, aber ich habs nicht verstanden. 


Mahmoud Darwich Anthologie 1992-2005

27. Mai 2019

Das sind Gedichte einer späten Phase. Da hatte er schon viele Jahre von Exil in vielen Ländern hinter sich. Auch hinter sich das Engagement im Exekutivkomitee der PLO. 1964 wurde er mit „Oelbaumblätter“ schlagartig berühmt, was ihm mehrfache Verhaftungen und Hausarreste einbrockte. Die Gedichte von 1992-2005 stammen aus der Pariser Zeit und der Zeit in Ramallah. 1993 trat er nämlich von allen PLO-Aemtern zurück. Er war gegen das Osloer-Abkommen. Gleich wie der andere berühmte Palästinenser seiner Zeit, Edward Said (ich fand damals dass das Oslo-Abkommen eine grossartige Chance ist. Die beiden sollten aber Recht behalten. Der linken und den rechten israelischen Regierungen danach ging es offensichtlich nie um Frieden sondern um Land). Darwisch starb 2008, Said 2003.


Martin Suter: Allmen und die Erotik

25. Mai 2019

Hab ich elektronisch von Dominik geschenkt bekommen. Kann man nicht auf dem Büchergestell verstauben lassen oder vererben. Elektronisch lesen, ist eine monastische Uebung – Verzicht auf Besitz lernen. Das letzte Hemd hat keine Bücherwand. Einen Suter lesen ist schon allein deswegen vergnüglich, weil der Mann so sympathisch ist. Liest man Céline, muss man sich ja immer sagen, was für ein schrecklicher Typ war das doch (obwohl er so gut schreibt). Im Roman die üblichen Verdächtigen. Von Allmen – der spielt ja immer wieder mit dem Von und mit bürgerlicher oder adeliger Herkunft. Hat er das von Robert Walsers Von Gunten. Der macht das dort auch. Also vergnügliche Lektüre, auch wenn einem schon bald schwant, wer der oder die Böse und Verruchte ist.


Eric Baratay: Bêtes des tranchées

22. April 2019

Der Historiker Eric Baratay schreibt immer wieder über Tiere. Dabei interessiert ihn weniger die Perspektive der Menschen auf die Tiere, sondern er versucht, so gut das halt geht, sich auf die Seite der Tiere zu stellen, ohne in simplen Anthropomorphismus zu verfallen.  In diesem Buch geht es um die Tiere im Ersten Weltkrieg. Rund 11 Millionen Pferde, Maultiere und Esel mussten teilnehmen, 100 000 Hunde, eine Viertel Million Tauben. Er beschreibt auch das Schicksal der vielen Nutztiere, die auf Höfen zurückgelassen wurden oder kurz vor der Flucht der Menschen aus dem Stall gejagt wurden.  Auch die Tiere, die die Soldaten vom Schützengraben aus beobachtet haben. Für die einen Ursache für Freude und Bewunderung, für die anderen Schiessübung. Rund die Hälfte der Tiere, die in Dienst genommen wurde, ist umgekommen. Allerdings, die Zahlen stehen auf wackeligen Beinen. Die Tiere haben so wenig interessiert, dass man keine genauen Angaben hat. Ueberhaupt, die Quellenlage , das schildert Baratay ausführlich, ist schwierig. Man hat wenig über die Tiere geschrieben.  Es fällt auf, dass die Franzosen am unkundigsten mit den Tieren umgingen. Ein Pferd war einfach ein Pferd. Ob es nun vor dem Krieg einen Bierwagen zog oder ein Rennpferd war. Französische Kavalleristen sind auch am wenigsten häufig vom Pferd abgesessen und haben sich weniger um das Tier gekümmert. Ganz anders soll das in der englischen Armee gewesen sein.  Der Erste Weltkrieg gilt als der erste mechanische Krieg. Erstaunlich dabei, wie viele Tiere zum Einsatz kamen. Die Pferde blieben nicht selten an die Kanonen, die sie ziehen mussten, angeschirrt und waren den unerträglichen Detonnationen ausgesetzt.  Wie in früheren Kriegen setzten die Kavallerien guppiert zum Angriff an. Gruppiert, weil einzelne Pferde im Schlachtlärm die Flucht ergriffen hätten.  Gruppiert allerdings waren sie im Krieg der Maschinengewehre ein leichtes Ziel… Die Esel und die Maultiere standen ganz unten  auf der Aufmerksamkeitsliste der  Tiere.  Ihre Transportleistungen, besonders in der österreichischen Armee in den Alpen, waren ausserordentlich.  Die Schinderei auch. Hunde sind als Meldeläufer eigesetzt worden und als Sanitäter, die die verletzten aufsuchten. Tauben waren Briefträger.  Viele kamen um, weil das Kommando im Hinterland die Position veränderte während die Tiere, die dann von der Front losgeschickt wurden, ihren Schlag nicht mehr fanden. Die Beschreibungen der Leiden der Tiere ist häufig unerträglich, ebenso die Quälereien, der Hunger, die schlechte Behandlung, die Kälte, Dreck und Schlamm. Einzelne Tiere wurden als Maskottchen in den Schützengräben gehalten.  Hunde, zum Beispiel, die sehr gut eigenes und fremdes Feuer unterscheiden konnten. 


Moshe Zimmermann: Die Angst vor dem Frieden

15. April 2019

Aus aktuellem Anlass – aber doch nicht so richtig. Der Friede war ja im israelischen Wahlkampf nicht wirklich ein Thema. Der Historiker Moshe Zimmermann hat dazu eine dezidierte Meinung. Das Buch stammt aus dem Jahr 2010 und ist 2012 um ein Kapitel erweitert worden. Es ist heute, bald 10 Jahre später, aktueller denn ja.  Wichtig ist, zu verstehen, dass der Zionismus von Herzl & Co nicht mehr jener unserer Tage ist. Das zeigt auch der ganz neue Essay von Uri Eisenzweig:  Le sionisme fut un humanisme.  Der Zionismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich vom Kolonialismus seiner Zeit. Die Zionisten wollten nicht ein Land erobern,  sie suchten eine „Heimstätte“ für das jüdische Volk.  Dieser Zionismus hatte nichts mit Nationalismus und Religion zu tun. Für Eisenzweig endet diese Geschichte 1967 mit dem Sechstagekrieg, für Zimmermann 1977, mit Begin, der an die Macht kommt und die dreissigjährige Geschichte der Arbeitspartei an der Macht beendet.  Wie auch immer – es ist ein religiöser Nationalismus entstanden, der heute die Definitionshoheit über den Zionismus übernommen hat.  Daran haben auch die „postzionistischen“ Historiker nichts geändert.  Zimmermann breitet in seinem Buch eine Chronik der Angst aus. Die beginnt er mit der – das darf man heute vielleicht schon so sagen – Totgeburt des Osloabkommens. Die Angst ist stärker als alle Hoffnung: Wir haben keine glaubwürdigen Gesprächspartner, wir wissen doch, dass man mit Arabern keinen Frieden schliessen kann, sie dürfen lügen! usw.  Ab aufschlussreichsten scheint mir das Kapitel über die Armee. Die Anzahl der orthodoxen Israeli, die sich in der Armee engagieren nimmt zu, sie haben z.T. eigene Einheiten, sie wehren sich immer wieder mal, mit Frauen zusammen zu sein, sie solidarisieren sich sehr mit den Siedlern.  Militäreinsätze gegen Siedler sind seit der Räumung der Siedlungen im Gazastreifen unter Sharon schon gar nicht mehr denkbar. Die Armee als Geisel der Siedler. Die Diasporajuden auch als Geiseln, der Westen auch und das Shoahgedächtnis auch. Zimmermann widmet das Buch seinen Enkeln, „um deren Zukunft ich bange“.


Robert Walser: Jakob von Gunten

25. März 2019

Hab es wieder mal mit Robert Walser versucht. Wir werden wohl nie dicke Freunde. Aber er vermag wie kein anderer eine seltsame, wunderliche, geheimnisvolle Stimmung zu schaffen. Anziehend und abstossend. Der Roman erschien 1909. Jakob ist in einem Internat, das künftige Diener ausbildet. Aber eigentlich lernt man nichts im Internat, stellt Jakob bald fest. Er gehorcht, aber nicht weil er müsste, sondern weil er sich in Demut üben will. Da blitzt blanke List durch, wer sich derart duckt, ist schwerer fassbar. Ist eigentlich ein Bildungsroman, aber am ganz anderen Ende von den Lehrjahren von Wilhelm Meister. Auch ein Abenteuerroman. Am Schluss zieht Jakob mit dem Direktor des Internats, der die Schule auflöst, in die Wüste.


Peter Jezler (Hg): Bilderstreit

28. Februar 2019

Zwingli-Jahr… da nahm ich dieses Buch von 1984 wieder in die Hand. Aufsätze vor allem von Peter Jezler und Elke Jezler, Christine Göttler, viele andere und – Dominik Landwehr (über reformierte Dämonologie)! Peter Jezler zeigt sehr schön, dass das biblische Bilderverbot nur einen (kleiner) Anteil an der Motivation für den Bildersturm hatte. Es hätte da ja noch jede Menge anderer biblischer Gebote gegeben, die man radikal hätte umsetzen können. Es gab eine allgemeine Bereitschaft, den Bilderkult abzuschaffen, begründet in der humanistischen Verachtung der „Leistungsfrömmigkeit“, im sozialen und ökonomischen Widerstand gegen den Bilderluxus. Der Bilderstreit – der Uebergang zwischen spätmittelalterlicher Festkultur und reformatorisch/kapitalistischem Arbeitsethos.


Dawit Kldiaschwili: Samanischwilis Stiefmutter

10. Februar 2019

Dieser kleine Roman spielt im Georgien des 19. Jahrhunderts. Er erzählt von den Schwierigkeiten Platons, Ehemann und Vater von vier Kindern, eine Stiefmutter zu finden.

Sein Vater, nicht mehr ganz jung, will nach dem Tod seiner Frau nochmals heiraten. Hat er sich doch, nicht mehr ganz junger, aber noch rüstiger Vater entschlossen, noch einmal zu heiraten. Platon befürchtet, dass durch die Heirat, er sein schon klägliches Erbe mit einem neuen Bruder teilen müsste. Deshalb sucht er für seinen Vater eine zweifach kinderlose ältere Witwe.

Die Familie gehört zu den sogenannten "Herbstfürsten", das ist ein georgischer Begriff für den niederen, verarmten Adel, der aber immer noch mit einem gewissen Dünkel pflegt.

Mit dieser tragikomischen Geschichte zeichnet der Autor Dawit Kldiaschwili, 1862-1931, ein Porträt der damaligen georgischen Gesellschaft. 

Kldiaschwili wurde in Imeretien, Westgeorgien, geboren, besuchte das Militärgymnasium in Kiew, dann die Militärakademie in Moskau, diente in der russischen Armee (Russland hatte Georgien 1801 annektiert), bis er wegen "Unterstützung revolutionärer Kräfte" entlassen wurde. Er hat also den Übergang von der traditionellen Gesellschaft in die Moderne mit all ihren Verwerfungen am eigenen Leib miterlebt und stammte selber aus dem Herbstadel. 

 

"Samanischwilis Stiefmutter" soll eines der Lieblingsgeschichten der Georgier sein. 


Cercle littéraire (Hg): Les trésors du cercle littéraire de Lausanne

6. Februar 2019

Das ist einer der ältesten Zirkel der Stadt Lausanne. Zum 200. Geburtstag sind hier 14 Aufsätze versammelt, die viel über die Zeit, die Stadt und das Land erzählen.  Besonders gefallen hat mir die Geschichte, die Ulrich Schädler erzählt (er ist der Direktor des Spielmuseums in La Tour de Peilz (Spiel-, nicht Spielzeugmuseum). 1842 haben 32 sociétaire einen Brief an das comité gerichtet, in dem sie drohen, den Zirkel zu verlassen, wenn nicht Spiele zugelassen würden. Auch Tabak und Alkohol sollen erlaubt werden. Bis dahin war der cercle eine streng protestantische Angelegenheit. Das comité hat nachgegeben, aber bei den Spielen nur bestimmte zugelassen, die sich irgendwie erzieherisch oder ähnlich rechtfertigen liessen. Reine Zufallsspiele waren immer noch pfui. Und vor allem Billard wurde nun geduldet – weil das hatte ja mit Physik und Geometrie zu tun. Höchstwahrscheinlich habe der cercle nur dank dieser „Oeffnung“ überlebt, meint Schädler. Was lernen wir daraus, hein?


Michel Houellebecq: Serotonin

5. Februar 2019

Also zuerst muss ich mal sagen, dass ich über viele Houellebecq-Kritiken nicht aus dem Staunen herauskomme. Das sind doch Profis – oder habe ich da etwas falsch verstanden? Da sind die einen, die Houellebecq einen Kotzbrocken finden und deshalb ist das Buch logischerweise auch ungeniessbar.  Wenn wir dieses Prinzip auf die ganze Literatur anwenden, dann bleibt nicht mehr viel übrig. Auch in der Musik nicht. In der ganzen Kultur. Wenn man so will auch in der Politik nicht. Die anderen finden den Romanhelden einen Kotzbrocken und deshalb ist das Buch ungeniessbar. Dieser Florent-Claude sei ein ausgesprochener Egoist, ein Zyniker. Ja und? Kennen wir denn keine solche Zeitgenossen? Und überhaupt – der ganze Roman sei nur zynisch (und drum verwerflich). Das find ich komisch. Leben wir nicht in einer extrem zynischen Zeit? Und die Romane unserer Zeit sollen schön aufbauend, „positiv“ sein?

 

Es wird uns die Geschichte von einem Mann erzählt, der sich als völlig gescheitert vorkommt und nur noch dank Antidepressiva über die Runden kommt, was ihn aber seiner Libido beraubt (somit gibt es auch etwas weniger Sexszenen als auch schon). Nicht nur trauert er einer grossen Liebe nach, er sieht alles den Bach runter gehen. Man muss das nicht gelesen haben, aber immerhin, das Buch fällt einem nicht schon nach zehn Seiten aus den Händen, was uns doch ab und an passiert, oder. Er kann schreiben, auch wenn das schwarz und giftgrün ist (und was ich seinem Florent übel nehme, ist, dass er Freud einen „österreichischen Clown“ findet).  Ach ja, er mache da über Seiten einfach Namedropping.  Vielleicht, aber witzig und böse. Goethe kommt als „einer der grauenvollsten Schwafler der Weltliteratur“ heraus.  „Die Unterwerfung“ hat mir besser gefallen. Da konnte man auch mal loslachen.  Hat mir Dominik geschenkt.


Philippe Lançon: Le lambeau

22. Januar 2019

Philippe Lançon, Journalist bei Libération und Charlie Hebdo, war am 7. Januar auf der Redaktionssitzung, als die Charlie-Leute von den Kouachi-Brüdern erschossen wurden. Er hat überlebt, an der unteren Gesichtshälfte sehr schwer verletzt. Davon erzählt er, aber vor allem von den Tagen, Wochen und Monaten danach. Ohne Analyse der Ereignisse, Theorien, auch ohne Jammern und Klagen. Die ersten hundert Seiten also von der scheusslichen Schiesserei, die restlichen 400 Seiten aus dem Spital. Die unzähligen Eingriffe, die Schmerzen, die Aengste, das verlorene Gesicht. Das Schweigenmüssen, die Sonden. Aber auch die Chirurgin, das Pflegepersonal, die Polizisten, die ihn rund um die Uhr bewachten. Und die Lektüren – der Zauberberg etwa, Proust, die Musik – Bach, Jazz. Ein Bildungsbürger, der bei Charlie und Libé gelandet ist. Ein kluger Mann, nie hassend, nie richtend. Eine Geschichte, die am 6. Januar 2015 mit Houellebecq beginnt – er will eine Rezesension von „Unterwerfung“ schreiben, diskutiert mit Freunden darüber – und hört auf mit dem 13 november 2015 (Bataclan) und wieder mit Houellebecq. Das Buch ist kein Essay über den Islamismus oder so, aber auch nicht über den Zustand der Spitäler. Es ist eher die Geschichte eines Mannes, der einem Attentat zum Opfer fällt, neun Monate im Spital ist und das so genau wie möglich erzählt. Erzählt, wie das Attentat und der Spitalaufenthalt sein Leben verändert haben – und das der anderen um ihn herum. Seine Gefühle, Empfindungen, Erinnerungen, sein Körper und die Wahrnehmung seines Körpers, die Musik, die Malerei, seine Art zu atmen und zu schreiben. Ein sehr menschliches Buch, trotz allem Scheusslichen zärtlich. Erscheint übrigens bald auf deutsch bei Klett-Cotta unter dem Titel: Der Fetzen. Hat mir Anne geschenkt, merci!


Bernhard Kathan: Strick, Badeanzug, Besamungsset. Nachruf auf die kleinbäuerliche Kultur

8. Januar 2019

Während im 19. Jahrhundert etwa 75% der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten, sind es heute nur noch etwa 2% und das Leben der heutigen Bauern hat nicht mehr viel mit der kleinbäuerlichen Kultur zu tun. Der Künstler und Kulturhistoriker Bernhard Kathan zeigt uns Aspekte des kleinbäuerlichen Alltags anhand von mehr als 50 Objekten, vom Dengelhammer bis zum Taufkleid, vom Grenzstein bis zur Feldmonstranz, vom Strick bis zum Bikini. Der Strick etwa, eines der Universalwerkzeuge, mit dem man Heu und Holz zusammenbindet, Kälber ans Halfter genommen werden, Kinder geschlagen und Särge ins Grab gelassen werden. Der Badeanzug, den Mädchen und Frauen ab den 60er-Jahren beim Heuen tragen, nicht nur weil es so heiss ist, sondern auch weil die anderen Frauen und Mädchen, die nicht auf dem Hof helfen müssen, im Schwimmbad sich so kleiden dürfen. Das Buch ist schon 2006 erschienen, aber immer noch sehr lesenswert. 


Marianne Künzle: Uns Menschen in den Weg gestreut

8. Januar 2019

Hab ich zum Geburi bekommen, merci, Andreas! Die Autorin, ehemalige Kampagnenleiterin von greenpeace, interessiert sich vor allem für den „Kräuter-Pfarrer“ Künzle und weniger für den militanten Gegenreformations-Pfarrer, den gewieften Publizisten und den Frauenfeind. Das kommt zwar im Roman auch vor, aber sehr weichgespült. Dass er auch Mussolini-Freund war, wird verschwiegen. Warum legt Marianne Künzle, die mit dem Pfarrer nicht verwandt ist, wie sie erwähnt, ihren Roman so an? Wollte sie einen Pfarrer zeichnen, der uns auch heute noch sympathisch ist? Ein bisschen ruppig mit den Frauen, aber nicht so schlimm, ein bisschen sehr katholisch, aber auch nicht so schlimm. Er hat ja auch Protestanten behandelt und geheilt. Aber geschah das aus einer ökumenischen Anwandlung heraus oder war das doch eher eine Beweisführung, dass er, Künzle im Besitz des richtigen Glaubens war? Es macht den Romanhelden auch nicht sympathischer, wenn seine Widersacher, Aerzte und vereinzelte Lehrer, arrogante Figuren sind. Eigentlich sollte man jedem Exemplar den Aufsatz von Peter Egloff über Künzle beilegen, der 1987 in der Berichtesammlung aus Graubünden „Neu-Splügen wurde nicht gebaut“, erschienen ist und sehr schön zeigt, wes Geistes Kind Künzle war.