Carl Vossen: Maria von Burgund

31. Dezember 2021

Maria von Burgund wurde 1457 als Tochter Karls des Kühnen, geboren. Seine erste Gattin war im Alter von nur 18 Jahren kinderlos gestorben. Maria war bislang Karls einziges Kind und damit Alleinerbin seines ausgedehnten und reichen Herrschaftsbereichs. Zur Geburt und zur Taufe war ihr Vater auf einem Jagdausflug. Bei der Geburt eines Sohnes hätte er sich wohl nach Hause bemüht. Im Alter von sechs Jahren wurde das Mädchen von den Eltern getrennt und lebte fortan in Gent, die Bürger der Stadt hielten sie dort sozusagen als Geisel, weil die Luft zwischen Karl und der Stadt ziemlich dick war. Natürlich fehlte es der Prinzessin an nichts. Sie lernte Flämisch, Französisch, Lateinisch, lernte mit Falken jagen, im Winter auf den Grachten Schlittschuhlaufen. Die Leute mochten sie. Ihre Mutter, die sie kaum kannte, starb, als sie acht war. Karl heiratete Margarete von York. Die war nur elf Jahre älter als Maria und zwischen den beiden entwickelte sich ein enges freundschaftliches Verhältnis. Die beiden Frauen reisten durchs Land, besänftigten die Leute, weil Karl immer mehr Geld für seine Kriege brauchte. Während das Kind heranwuchs, schmiedete der Vater Heiratspläne. Favorit war der Sohn des Kaisers, Maximilian von Habsburg. Erst meinte Karl noch, dass dabei der Königstitel herausschaut, aber der Kaiser pokerte und liess den Burgunder Herzog schmachten. 1476 versprach Karl dem Kaiser feierlich seine Tochter – in Lausanne. Warum in Lausanne? Nach der verlorenen Schlacht von Grandson sammelte er verbliebenen Mannen in Lausanne und heuerte neue Söldner für die Schlacht bei Murten an. Da verlor er nach dem Mut auch das Gut. 1477 bei der Schlacht von Nancy fiel dann Karl der Kühne. Jetzt musste die erst knapp 20-jährige Herzogin ran. Das war auf allen Ebenen sehr schwierig. Ihr Vater hat sich mit seinen immer grösseren Forderungen nicht beliebt gemacht und der französische König Ludwig XI, von dem sich auch die Eidgenossen instrumentalisieren liessen, der auch Götti von Maria war,  marschierte im südlichen Burgund ein. Die Franche-Comté widersetzte sich allerdings. Zur Erinnerung: zum Burgund des Karl des Kühnen gehörten das eigentliche Burgund (Dijon und so), dann was heute die Niederlande, und Belgien ist.

Maria ergriff die Flucht nach vorne und machte in der Sache mit der Heirat mit Maximilian vorwärts. Ihm war am ehesten zuzutrauen, die Ansprüche des fiesen Ludwig XI zu parieren. Sie heiratete ihn per procurationem. Friedrich III., der Vater von Maximilian war allerdings schwach bei Kasse. So trieb der Sohn auf dem Weg nach Gent in den verbündeten Städten Geld ein, damit er ordentlich vor Maria antreten konnte. Die Burgunder waren höchsten Luxus gewohnt.

 

Im Schloss zu Gent kam es dann zur ersten Begegnung zwischen der Burgunderherzogin und dem Kaisersohn, die sich zuvor noch nie gesehen hatten. Maria verstand kein Deutsch, während Maximilian nur unzureichende Kenntnisse des Französischen besass. So verständigten sich die Brautleute anfänglich in der von ihnen einigermassen beherrschten lateinischen Sprache (man beachte: Lateinischlernen ist immer eine gute Sache). Damals vergnügten sich Maria und Maximilian, deren Ehe trotz ihres aus rein politischen Gründen erfolgten Zustandekommens sehr glücklich verlief, mit Jagden, Bällen, Turnieren und Festmählern. Maria suchte ihrem Gemahl Eislaufen beizubringen, in welcher Disziplin Maximilian es aber nicht zur Meisterschaft brachte. Daneben frönte das Paar dem Schachspiel, gab musikalische Darbietungen zum Besten  und las gemeinsam Ritterromane. Sie bekam einen Sohn, Philipp und eine Tochter  (siehe Kloster Brou in Bourg-en-Bresse). Zwei Jahre später stürzte Maria während einer Beizjagd und verstarb 25-jährig.  So ein Leben im totalen Luxus war eigentlich gar nicht lustig. Sie hatte immer ums Ueberleben kämpfen müssen. Ihr Reich war eine Pufferzone zwischen dem französischen König und dem deutschen Kaiser, war zugleich Teil von den beiden Reichen. Ein kurzes Leben lang hatte sie unablässig Geld zu organisieren, um die endlosen Schlachten zu finanzieren und musste immer um ihren Thron bangen.  


Mohamed Mbougar Sarr: La plus secrète mémoire des hommes

14.12.2021

Prix Goncourt 2021. Das ist kein Liegestuhlbuch. Mohamed Mbougar Sarr nimmt den Leser mit in das Heimatdorf des Erzählers in Senegal, unter einen Mangobaum, in furchtbare Massaker, nach Argentinien unter der Militärdiktatur, ins Paris des Zweiten Weltkriegs, zu einem blinden Heiler in Dakar. Immer dicht erzählt, immer wieder verfällt er in eine neue Textsorte.  

 

Diégane Latyr Faye ist der Romanheld, ein junger Autor. Eine geheimnisvolle Poetin Siga D. gibt ihm ein noch geheimnisvolleres Buch zu lesen "Le labyrinthe de l’inhumain", geschrieben von einem nicht fassbaren T.C.Elimane. Wir bekommen das Buch natürlich nicht zu lesen, aber es muss absolut umwerfend sein.  Diégane begibt sich auf die Suche nach Elimane. „Qui était-il? Un écrivain absolu? un plagiaire honteux? un mystificateur génial? un assassin mystique? un dévoreur d’âme? un nomade éternel? un libertin distingué? un enfant qui cherchait son père? un simple exilé malheureux qui a perdu ses repères et s’est perdu? Qu’importe, au fond. C’est autre chose que j’aime en lui." Dieser Elimane hat ein historisches Vorbild, der malische Schriftsteller Yambo Ouologuem, dessen Roman „Devoir de violence“ 1968 hochgelobt wurde, um anschliessend mit vernichtender Kritik eingedeckt zu werden, weil man ihn des Plagiats überführte. Der Roman des jungen Schriftstellers Sarr greift Fragen nach Fiktion und Literatur auf, ist aber auch ein politisches Buch, so wie es seine früheren Texte waren. « Elimane voulait devenir blanc, et on lui a rappelé que non seulement il ne l’était pas, mais encore qu’il ne le deviendrait jamais malgré son talent. Il a donné tous les gages culturels de la blanchité ; on ne l’en a que mieux renvoyé ä sa négreur. »


Emmanuelle Robert: Malatraix

14. November 2021

Ein Krimi, der in der Region Montreux, Rocher-de -Naye spielt. Und Malatraix ist ein Flurname in der Region. Man liest ihn mit Vorteil am Stück, damit man die Spur nicht verliert, denn das Personal ist ziemlich zahlreich, so an die dreissig Personen werden es schon sein, dazu noch Hunde, Katzen und anderes Getier, von dem man ja nicht weiss, ob es nicht auch verdächtig ist. Aber eigentlich weiss man ab der ersten Seite, wer der Killer ist. Spannend bleibt es trotzdem, weil die Romanfiguren keine Ahnung vom Bösen haben und wir jedoch wissen möchten, wie sie den Täter finden. Tote gibt es auch nicht zu knapp, sie kommen alle, sagen wir, ziemlich konventionell zu Tode. Alle haben sie mit den Bergen zu tun, mit dem Wandern, besser gesagt mit den Berglaufen, mit dem Trail, dem wettkampfmässigen Lauf in den Bergen. (Ich merke gerade, wie schwierig es ist, von einem Krimi zu reden, ohne alles zu verraten…) Ein wichtiger Teil des Charmes vom Krimi aus einer Region, die man kennt ist, dass man Gewohntes widerfindet, dass man Lokalgeschichte aufgefrischt bekommt, liebe Vorurteile bestätigt werden. Die Leute trinken natürlich Wein aus der Region, na, von welchem Weinbauern denn? von welcher Region? Ach, von dem? Was will das uns sagen? Noch lieber bekommt man all die Leute, die da durch den Roman trailern, einen regelrechter Querschnitt durch die Bevölkerung, junge und alte, blöde und nette, Schwule und Lesben, Auswärtige und Einheimische und was es sonst noch so gibt. Und fast alle kennen einander um sieben Ecken herum, wie es halt so ist. Besonders erzählenswert ist lustigerweise der Erzählerin, ob jemand raucht und wenn ja weshalb und wann und wieviel. Drückt da eine Gesundheits-Kümmernis der Autorin durch? Wie auch immer, sie verschafft einem viele sehr vergnügliche Stunden, man bleibt gerne zu Hause in der Wärme, weil droben in den Bergen das Unglück lauert und noch so leicht stürzt man zu Tode. 


Isabelle Huser: Zigeuner

14. November 2021

Anfang der siebziger Jahre deckte der Journalist Hans Caprez den Skandal um die „Kinder der Landstrasse“ in der Zeitschrift «Beobachter» auf. 600 Kinder sind von *Pro Juventute“ aufgespürt und in Heimen und Bauernfamilien zwangsplatziert und als billige Arbeitskräfte ausgenutzt worden.

Isabelle Huser entgeht diesem Schicksal, begibt sich aber auf Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte und entdeckt so allerhand Schreckliches, das den Jenischen angetan wurde. Ausgehend von der Geschichte ihres Vaters und ihrer Mutter, die als Lehrerin aus Italien zuwanderte, entdeckt sie immer mehr Details in Archiven. Sie beschreibt die Verfolgung der Jenischen genau und einfühlsam.

 

Isabella Huser selbst verwahrt sich gegen den Begriff «Fahrende»; lieber spricht sie wie im Buchtitel von «Zigeunern». Tatsächlich ist das Nomadisieren, ganz ähnlich wie bei den Roma, kein eigentlicher Teil einer „ethnischen Identität“. Wenn man „fuhr“, so tat man es aus Not oder weil es die Arbeit erforderte. Man kann sich fragen, ob „Fahrende“ nicht vorurteilsbeladener ist als „Zigeuner“, das wir uns abgewöhnt haben.  Ihr Vater Toni und seine Geschwister entgingen der Verfolgung, nicht zuletzt weil ihre Grosseltern Musiker waren und auf Festen und in Kurhotels aufspielten und von der Pro Juventute schlecht aufzuspüren waren, weil sie immer unterwegs waren… 


S. Corinna Bille: Emerentia

8. November 2021

Corinna Bille hat die Geschichte von Gottfried Keller . Der hat sie in die Mitte seines „Der grüne Heinrich“ platziert. Dort heisst das Mädchen Meretlein, bei Corinna Bille ist es Mérette. Emerentia ist 5 Jahre alt, als ihre Mutter stirbt und ihr Vater, ein reicher Bürger, wieder heiratet. Die Stiefmutter hält das kleine Mädchen für unkontrollierbar. Sie zeigt die größte Gewalt gegen die Religion. Das Kind muss  zur Buße zum Dekan eines kleinen Dorfes im Tal. Dort akzeptiert das Kind keinen anderen Kontakt als den zur Natur, zur Rhone und zu den Kindern des Dorfes. Sie spricht mit Bäumen, Vögeln, Fischen, was sie in den Augen des Dekans und einiger Dorfbewohner der Hexerei schuldig macht. Corinna Bille setzt die Geschichte ins Wallis und in die Zeit, als die Gegenreformation wütete. Corinna Bille sagte von diesem  Buch es sei „véritablement chair de ma chair“.


Sasa Stanisic: Herkunft

8. November 2021

Es gibt Autoren, die etwas zu erzählen haben und dazu noch gut erzählen können. Zu ihnen gehört sicher Saša Stanišić. Er ist ein Sprachspieler, der sein Leben im Jugoslawien Titos und seine Jugend in Heidelberg fein und ironisch heraufbeschwören. Das tönt dann etwa so: „Anfangs in Deutschland wollte ich zweierlei nicht sein: Jugo und Geflüchteter. Ich wollte mir die haare lang wachsen lassen, einmal, um meine Pickel zu verstecken, und einmal, um wie Kurt Cobain auszusehen. Ich wollte Gitarre spielen lernen und singen wie Kurt Cobain. Ich wollte Klamotten wie eine männliche Janis Joplin, ich fand bebatikte T-Shirts prima. Ich wollte noch besser Deutsch lernen, damit die Deutschen in meiner Gegenwart sich nicht soviel Mühe geben mussten, zu verbergen, dass sie mich für dumm hielten.“

 

Seine Eltern krampfen sich halb zu Tode für die Kinder, aber der Junge möchte kein Opfer sein. Er gibt sich lieber als Slowene aus denn als Bosnier. Skifahrer statt Kriegsopfer. Und dann entdeckt der Junge in Heidelberg, der sich meist mit den Kumpels aus der ARAL-Tankstelle rumtreibt, die deutsche Romantik, Eichendorff. "In einer lauen Sommernacht in meinem zweiten deutschen Jahr habe ich dort mein Herz verloren an ein Mädchen mit rotem Haar, das mir versucht hat beizubringen, das Verb stehe in deutschen Relativsätzen immer am Satzende, was ich schon längst wusste, aber sie erklärte so schön."


Michel Layaz: Les Vies de Chevrolet

28. September 2021

Louis Chevrolet 1878 wurde in La Chaux-de-Fonds geboren. Die Familie zog aber bald nach Beaune im Burgund, wo der Vater ein besseres Einkommen für die zehnköpfige Familie erhoffte. Louis liebte Maschinen und Räder, fuhr Velorennen, später Autorennen. Ueber eine Anstellung in Paris, kam der nach Kanada, dann in die USA. 1905 stellte er mit Fiat einen Geschwindigkeitsweltrekord auf (109,7 km/h). Andere (Welt)rekorde folgten und er war ein gesuchter Konstrukteur und Rennfahrer. Geschäftlich war er nicht so gut. Er überliess einem Geschäftspartner (später GM) seinen Namen, der in der Autowelt einen besonders guten Klang hatte. Er holte die ganze Familie in die Staaten, sein Bruder Gaston wurde auch Rennfahrer und als dieser 1920 tödlich verunglückte, fuhr Louis keine Rennen mehr. Layaz erzählt nicht nur Louis‘ Geschichte, sondern die der ganzen Familie. Die Geschichte auch der wahnsinnigen Rennen, die so viele Todesopfer forderten. Aber an seinen Roman über Louis Soutter (den gibt es auch deutsch: „Louis Soutter, sehr wahrscheinlich“) kommt dieser nicht ran. 


Gabriel Bender: Les folles de Morzine

18. September 2021

Die Geschichte spielt in den 1860er-Jahren in Morzine. Das liegt eine Bergkette hinter dem Genfersee in der Haute-Savoie. Heute ist das ein beliebter Skiort zusammen mit der Station Avoriaz am Berg oben, Teil des grossen Skitummelfelds „Portes du Soleil“. 

Damals haben junge Mädchen angefangen in Zungen zu reden, Visionen der Mutter Gottes, dann aber vor allem des Teufels zu haben, wüste Wörter zu sagen und sich am Boden zu wälzen. Das hat rasch um sich gegriffen, ältere Mädchen, junge Frauen, ältere Frauen zeigten das gleiche Verhalten. 13 Jahre lang.

Es ist wichtig zu wissen, dass das Gebiet erst 1860 (Savoyerhandel) zu Frankreich kam, vorher dem Königreich Sardinien-Piemont angehörte. Das heisst, dass man in einer ersten Zeit der Sache mit den Mitteln der Kirche beizukommen versuchte. Der Bischof kam vorbei (davon gibt es ein berühmtes Bild ), die Kapuziner von St-Maurice wurden gerufen, aber alles nützte nichts.

Unter Napoleon III. schickte man zuerst mal die Armee, die hat auch nichts genützt, dann die Psychiater. Erst allmählich, als man die Nöte der Frauen ernst nahm, hörten die Anfälle auf. Zu sagen ist, dass die Frauen den ganzen Sommer über mit den Tieren und den Arbeiten auf Hof und Alp alleine gelassen wurden. Die Männer arbeiteten in Genf oder in Paris. Man schickte Tierärzte, die den Frauen mit den kranken Tieren halfen, man wies die Soldaten an, mit den Frauen zu jassen und sie in Blasmusik zu unterweisen.

 

Der Soziologe Gabriel Bender hat die Geschichte sehr gut aufgearbeitet (es ist schon viel darüber geschrieben worden), erzählt parallel dazu von Bernadette Soubirous, die etwa zur gleichen Zeit auch Visionen hatte, die aber bei den Erscheinungen der Mutter Gottes blieb und als Heilige in die Geschichte einging (Lourdes). Das ist hilfreich für das Verständnis der Ereignisse. Darüber hinaus setzt er die ganze Geschichte in einen zeitgenössischen Rahmen, ein Filmteam geht da hoch und arbeitet an einem Filmprojekt über die Folles de Morzine. Da lebt Gabriel Bender auch seine Schwäche fürs Krude aus. 


Gert Melville: Die Welt der mittelalterlichen Klöster

17. September 2021

Die wichtigsten Orte im Mittelalter waren die Klöster, bevor sie viel später von den Städten abgelöst wurden. Dort wurde Wissen gesammelt, studiert, spekuliert. Dort konnte man schreiben, wusste wie Landwirtschaft, Heilkunde, Architektur geht. Vor allem wurde dort der Versuch unternommen, durch Askese erleuchtet zu werden. Der Körper und seine Begierden galt es abzutöten, das wirkliche Leben begann ohnehin erst nach dem Tod. Wie man genau zu leben hatte, um das ewige Leben zu erlangen, haben sich etwa schon Augustinus, später Columban oder dann Benedikt ausgedacht. Aber der Teufel hockte im Detail dieser Regeln. Eine neugegründete Klostergemeinschaft begann immer mit einer strengen Befolgung der Regeln. Dann kamen die kleinen und grösseren Ausnahmen und spätestens so nach 200 Jahren war der Orden bereit für eine Reform oder für den Untergang. Aeusserst wichtig war die Beziehung zu den kirchlichen Instanzen, aber auch zu den weltlichen Herrschern. Am besten war, wenn man sich direkt dem Papst unterstellte und so die Begehrlichkeiten des örtlichen Bischofs umgehen konnte. Ein Fürst war wichtig, weil das Kloster ja vor Plünderung geschützt sein sollte. Aber auch der hatte ein Auge auf den Erfolg des Klosters. Je asketischer die Mönche lebten, umso erfolgreicher und reicher wurden sie. Und das war dann das Ende. Klöster waren grundsätzlich adelige Veranstaltungen. Erst allmählich wurden auch ganz gewöhnliche Männer Mönche und später auch Priestermönche. Dann kamen die Bettelorden, wie Franziskaner oder Dominikaner. Die wollten alles besser machen. Sie besassen gar nichts, nicht einmal das Kloster. Aber auch die schafften es, reich und korrupt zu werden. Max Weber nannte das die Veralltäglichung des Charismas. Kennen wir doch von anderen Unternehmungen. Das Buch erzählt vor allem entlang den Dokumenten, die man noch besitzt. Aber was den Mönch x in seinem Alltag bewog, wie er das stundenlange Beten überstand, das Fasten, den absoluten Gehorsam, die Keuschheit – davon erfahren wir ganz wenig.

 

„Die Religiosen prägten durch die modellhafte Entwicklung ihrer eigenen Strukturen die europäischen Vorstellungen von der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft entscheidend mit. Sie lehrten Europa die Rationalität der Planung, der Normensetzung, der Arbeitsteilung, der Güterzuweisung und der ökonomischen Betriebseffizienz. … Mittelalterliche Klöster waren „Innovationslabore“, die wesentliche Grundlagen der Moderne schufen.“


Thomas Mann: Der Zauberberg

16. September 2021

Von der langen Liste der noch zu lesenden Bücher: Der Zauberberg. Ich habe schon verstanden, dass das Buch als Bildungsroman oder Parodie auf den Bildungsroman zu lesen ist. Mir kam er als Ritterroman vor, so gar nicht als Roman der Moderne. Man hat Prinzipien, man duelliert sich, man nimmt sich das Leben, wenn man sich beleidigt fühlt. Was es nicht einfacher macht: keine der Figuren ist sympathisch. Man kann sich bei keinem und keiner auch nur ein bisschen anlehnen. Und die grossen Themen wie Liebe, Tod, Krankheit, Philosophie … na ja.  Aber sorry, ich weiss, für viele ist das Buch hennenwichtig. 


Tove Ditlevsen: Kindheit/Jugend/Abhängigkeit

1. Juli 2021

Diese „Kopenhagen“-Trilogie ist sehr erfolgreich, obwohl doch schon etwas älter.  Die dänische Autorin Tove Ditlevsen begeistert mit ihrem stark autobiografisch inspirierten Werk immer wieder neu Generationen von Leserinnen und Lesern. Die Autorin lebte in  der Zwischenkriegszeit als Kind und Jugendliche in kargen Verhältnissen. Die Männer sind arbeitslos, die Frauen  verbittert, die Kinder auf der Strasse zwischen den Mülltonnen. Ditlevsen  schreibt unsentimental, treffsicher. Sie erzählt von einem Kind, einer jungen Frau, die im Grunde nur eines will: schreiben. Anders als bei Annie Ernaux gibt es hier aber keine reflexive Metaebene. Die Erzählung ist rücksichtslos, grausam. Die erste Ehe geht die knapp 20-jährige Tove mit dem 30 Jahre älteren Redakteur einer Literaturzeitschrift ein, der ihr erstes Gedicht publiziert. Es folgen drei weitere Ehen, alle unglücklich, Schwangerschaften, verbotene Abtreibungen. Dabei wünscht sie sich nichts mehr als Normalität. Der dritte Mann, ein Arzt, spritzt ihr ein morphinähnliches Mittel, sie wird schwer süchtig, wird schliesslich völlig abgemagert in die Klinik gebracht. In der Klinik schreibt sie 1967 "Kindheit" und "Jugend", zwei ihrer schönsten Bücher, und 1971 "Abhängigkeit“.


Jean-Pierre Rochat: La légende du merle

20. Juni 2021

Der neue Rochat ist da. Ein intimer Roman, ein Tagebuch, getragen vom Gesang einer Amsel vom ersten Frühling bis im Sommer, wenn der Vogel verstummt. Der pensionierte Bauer beschwört  in der Coronazeit mit Melancholie die Abwesenheit der Enkel, die Freundschaft von Menschen am Rand der Gesellschaft, die  Sinnlichkeit  der Frauen in seinem Leben. 


Zeruya Shalev: Mann und Frau

19. Juni 2021

Die Bestseller-Autorin aus Israel ist eine Meisterin der Erzählung von Paarbeziehungen. Sie geht allen verschlungenen Windungen und Wendungen nach. Jedem noch so kleinen Verrat, jeder Treulosigkeit. Solange bis es wehtut. Diesmal geht es um Udi und Naama. Udi zeigt sein Unglück  mit den unterschiedlichsten körperlichen Symptomen - einmal ist er für zwei Tage fast vollständig gelähmt, ein anderes Mal wird er für kurze Zeit blind, und das immer nach einem Streit mit Naama. Dann legt er sich ins Bett und lässt sich von Frau und Tochter bedienen. Naama gegenüber rechtfertigt er dieses Verhalten mit dem Hinweis auf ein acht Jahre zurückliegendes Erlebnis - damals hätte seine Frau ihn mit einem Maler betrogen. Hab ich nicht, aber vielleicht fast. Naama leidet seither unter Gewissensbissen und versucht fast alles, um ihm den Alltag so angenehm wie möglich zu gestalten - nur damit er sie wieder liebt, wie früher. Aber er ist nicht bereit, ihr zu vergeben. So sind beide damit beschäftigt, sich gegenseitig zu zermürben. 


Sylvie Tanette: Maritimes. Une histoire méditerranéenne

18. Juni 2021

Es beginnt fast wie ein Märchen. Wir sind auf einer kleinen Mittelmeerinsel und ein alter Fischer, vielleicht ein paar hundert oder tausend Jahre alt, erzählt vom recht friedlichen Leben auf der Insel und vom Meer, aus dem sie alle einst kamen. Auf dem Festland herrscht die Diktatur. Immer, wenn man eine Seite weitergelesen hat, erwartet man, dass das Unglück über die Insel hereinbricht. Aber Sylvie Tanette hält uns lange hin. Als Benjamin, schön wie ein griechischer Gott, auf der Insel landet und bleibt, stellt niemand Fragen, aber alle wissen, weshalb er auf die Insel kommt. Bald zieht er mit dem schönsten Mädchen der Insel in ein verlassenes Haus und bald nimmt das Schicksal auf den letzten Seiten seinen Lauf. Ein hell leuchtender Roman.

 

Sylvie Tanette ist in Marseille geboren und lebt in Paris. Sie ist Mitarbeiterin für Literatur am welschen Radio Espace 2. 


Claude Hauser, Sylviane Messerli, Laurent Tissot (dir.):  Un foyer intellectuel et artistique dans le Jura Bernois, 1780-1850

4. Juni 2021

Wenn man nicht zu schnell durch Corgémont im Berner Jura fährt, sieht man am Strassenrand eine Büste eines grimmigen Mannes. Es ist Charles-Ferdinand Morel, der da Ende 18. , erste Hälfte 19. Jahrhundert als Pfarrer gelebt hat. Noch vor 10, 20 Jahren hätten ihm die Historiker eine Studie gewidmet, heute ist es anders: Man interessiert sich auch für seine Frau. Sie war eine gebildete junge Frau aus sehr gutem Haus von Colombier. Beinahe hätte sie einen französischen Offizier geheiratet, entschied sich dann doch für den Pfarrer. Eine echte Liebesheirat. Weil sie aber beide sehr viel geschrieben haben (vor allem sie), wissen wir heute, dass die Ehe sich zur Hölle entwickelte. Monsieur musste ein grausamer Macho gewesen sein, war aber in der Oeffentlichkeit ein gesuchter und bekannter Mann.

Zur Erinnerung: Am Ende vom Ancien Régime war das Bistum Basel (und da gehörte der Nord- und Südjura dazu) ein kleiner fürstbischöflicher Staat. Mit der französischen Revolution besetzen die Franzosen  1792 den Norden des Fürstbistums und machten daraus la République Rauracienne, aber schon sehr bald wird daraus le département du Mont-Terrible, 1797 kommt der Süden des Jura dazu und 1800 wird alles dem Département Haut-Rhin einverleibt. Nach dem Sturz von Napoleon wird der Jura wieder vom Departement Haut-Rhin getrennt und die Alliierten übergeben  die Verwaltung dem Baron d’Andlau. Vom Januar 1814 bis im August 1815 ist er der Mann Oesterreichs . Die Alliierten waren seit dem Beginn von 1814 der Meinung, dass das ganze Fürstbistum dem Kanton Bern zugeschlagen werden sollte. Nur ein starkes Bern konnte die Grenze zu Frankreich halten und gleichzeitig tröstete man Bern über den Verlust vom Aargau und der Waadt. Der Wiener Kongress 1815 hat dann das so festgehalten. Aber vorher, also 1814 , wurde noch heftig diskutiert, wie man das alte Fürstbistum in einen neuen Staat umwandeln kann. Da passierte etwas Unerwartetes: Andlau, ein Vertrauter Metternichs, beauftragte Morel damit, eine Verfassung für diesen Jura zu entwerfen. Erstaunlich dabei ist, dass Morel ein glühender Bewunderer Napoleons war, ein Jakobiner!, Feldprediger. „Canton de la Rauracie“ nannte Morel das Land nun. Es wurde, wie wir heute wissen, nichts aus dem Projekt.

 

Als Pfarrer war er auch Landbesitzer und sah seine Aufgabe auch darin, den Bauern die neuen Anbau- und Zuchtmethoden zu vermitteln. Zu seiner Zeit war die Zucht von Merino-Schafen Mode. Spanien verbot zwar lange Zeit den Export der Schafe, sie wurden aber trotz aller Verbote aus dem Land geschmuggelt. Auch Morel besorgte sich eine kleine Herde, gab Böcke und Schafe den Bauern weiter, Merino waren das Ding der Zeit. Der Ruf des Merino-Pioniers Morel drang bis an den Hof in Paris! Kaiserin Josephine belohnte den rührigen Pasteur von Corgémont und liess ihm zwei Böcke aus ihrer Zucht zukommen. Was für eine Ehre. Mit den Böcken schleppte sich Morel allerdings die Krätze ein… Die Schafe lieferten zwar brav die Wolle, aber mit der Verarbeitung wollte es nicht klappen. Die Verarbeiter schoben immer schlechte Qualität vor, um den Preis der Wolle zu drücken. Aus dem Merino-Projekt ist nichts geworden.    


Annette Hug: Tiefenlager

19. Mai 2021

Auch Könige, Fürsten, Herzoge hatten trotz aller feiner Tücher und Hofstaat  so ihre Sorgen. Das schlechte Gewissen regte sich gelegentlich, weil man etwa böse zu den Bauern war, Geschwister umbringen liess oder aus lauter Faulheit sich vor einem Kreuzzug drückte. Der Beichtvater konnte zwar für Verzeihung sorgen, aber die Sündenstrafen blieben. Da war es von Vorteil, wenn man Mittel hatte. Dann konnte man ein Kloster gründen und die Mönche bis zum Weltuntergang für einen beten lassen, auf dass sich die zu erwartende Fegfeuerzeit  verkürze. Für den einen oder anderen ist das allerdings dumm gelaufen.  Er meinte,  die Mönche würden für ihn tausend Jahre beten, aber schon nach zweihundert Jahren kamen die Reformatoren und schlugen alles kurz und klein, verjagten die betenden Mönche und der Stifter ging vergessen. Manch einer schmort noch immer im Fegefeuer.

Annette Hug erzählt uns in ihrem neuen Roman von einer zeitgenössischen Ordensgründung, die der alten, cum grano salis, doch ziemlich ähnelt und irgendwie deren Tradition fortführt. Der Zusammenhang ist folgender: Wir haben ein Problem mit dem Atommüll. Der wird noch Tausende Jahre weiterstrahlen.  Für Hunderte, Tausende Generationen wird er eine Gefahr darstellen.  Für Menschen, die dereinst nicht mal mehr wisse werden, was ein AKW war. Es haben sich schon einige Forscher darüber Gedanken gemacht, wie man diesen Abfall über Jahrtausende „hüten“ könnte. Vergraben, vergraben im Opalinuston, ist im Moment sehr in Mode. Aber wenn die später mal da im Opalinuston graben und nichts von Strahlen wissen? Im Roman „stiftet“ ein „Konsortium“ also einen Orden mit der Vision: „kein Mensch wird durch die Strahlung eines Endlagers für nukleare Abfälle getötet.“ Und warum sollte gerade ein Orden dieser Vision am nähesten kommen? „ Ein Kloster ist die zuverlässigste bisher bekannte Methode, Wissen zu sichern und von Generation zu Generation zu übermitteln“. Da schreibt jemand, der die lange Klostertradition kennt .  Tatsächlich neigen wir dazu, die Bedeutung der Klöster zu vergessen. Wo wären wir heute ohne die Tradition der Klöster? Wo in den Naturwissenschaften, in der Medizin, in der Kunst?  Die Klöster haben nicht nur Wissen produziert, sondern auch aufbewahrt und zwar über sehr lange Zeit. Da waren schon einige, die schon früher auf die Idee mit Hütern des Atommülls über Jahrtausende gekommen sind. Einer ist im Roman auch erwähnt: Thomas Sebeok. Der amerikanische Semiotiker entwickelte eine Art Atomsemiotik. Er meinte, dass man fürs Volk einen Kult, magische Praktiken entwickeln müsse, damit künftige Menschen sich von den Tiefenlagern fernhielten. Von dieser Art Priesterkult wollten die Ordensleute im Roman rein gar nichts wissen, sie wollten sich nicht als Priester verstehen.

Wir verfolgen also das Entstehen eines neuen weltlichen Klosters, mit Leuten aus Asien und Europa. Allmählich entstehen Regeln, östliche Uebungen am Morgen, permanentes Lernen, Garten pflegen und weiteres kommen dazu.  Das ist spannend, diese Neugründung mit zu verfolgen. Man bezieht sich nicht explizit auf die kirchliche Tradition, aber sie ist immer gegenwärtig. Es taucht auch mal der Begriff der „Minderen Forscher“ auf, eine Anlehnung an die „Minderen Brüder“, an die Franziskaner. Der strahlende Müll steht zwar im Zentrum, aber er kommt eigentlich selten vor, man liest keinen Oeko-Roman. Viel wichtiger ist es den Ordensleuten,  die richtigen Worte für die Dinge zu finden und richtig in der Welt zu stehen: „Am 30. März haben wir eine Lektion unterbrochen, weil wir den Geräuschen nicht widerstehen konnten, die von draussen eindrangen. Das Trommeln eines Spechts. Und das Summen im Kirschpflaumenbaum. Die Blüten waren aufgegangen und zogen Insekten an. Hummeln bewegten sich wie schwere Tanker zwischen den Bienen durch. Erst auf den zweiten Blick waren schlanke Wildbienen zu sehen, die waagrecht in der Luft stillstanden. Auch Kleinstflügler, Mücken ähnlich, näherten sich den Blüten. Das war ein Fest, man konnte es nicht anders nennen.“

 

Wenn es sein muss, kann man das Buch schon schnell lesen, es ist sehr lesbar und sorgfältig geschrieben. Aber das wäre schade, es lädt eher zum besinnlichen Lesen ein, zu einem Aufenthalt in einem Kloster auf Zeit. Allein schon, weil wir in eine überraschende, unvermutete Welt eintauchen. Und die Ordensmänner und –frauen tun nicht immer, was man erwarten würde. Der Text ist sehr dicht, zurückblättern ist erlaubt, nachsinnen auch. Wir tauchen in eine Welt ein , in der der Versuch unternommen wird, die Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen. Auf eine demütige Art. Die Sprache und die Zeichen werden wieder wichtig. Richtige Sprache, richtige Zeichen, die die Dinge richtig benennen.


Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz

12. Mai 2021

Der Untertitel hat mich angesprochen:“ Das Geheimnis grosser Literatur“. Endlich würde ich erfahren, was grosse und was kleine Literatur ist. So naiv ist man manchmal. Der Kassensturz würde den Titel wohl unter „Etikettenschwindel“ des Monats verbuchen. Aber Literatur darf, was Ravioli nicht dürfen.  Natürlich wird das Geheimnis nicht gelüftet.  Oder besser gesagt, mir hat es sich auch nach 600 Seiten nicht erschlossen. Kein bisschen.  Aber überwältigend ist schon, wie Maar durch die deutsche Literatur surft, klug zitiert, noch klüger dies und jenes anmerkt. Man kommt sich als Laienleser mit jeder Seite etwas kleiner vor. Klar, Thomas Mann hat es ihm angetan, aber auch Gotthelf oder Hildegard Knef. Zum ersten Mal lese ich im Dank am Schluss des Buches zuerst Wikipedia „für gelegentliche Erste Hilfe“, bevor unser Ex-Radiogspänli Andreas Isenschmid verdankt wird.  Und am Schluss schreibt er: „Als der Pfiff der Trillerpfeife ertönte, die letzten Türen geschlossen wurden und die Lokomotive langsam in Richtung Verlagshaus losdampfte, verblieb noch ein Grüppchen Passagiere im Wartesaal.“ – Darunter auch einige, über die ich gerne seine Meinung gehört hätte. Wie zum Beispiel Nestroy, Horvath, Dürrenmatt.  Es sei nicht ihre Schuld, meint Maar, dass die es nicht auf den Zug geschafft haben.


Christian Kracht: 1979

7. Mai 2021

Ich weiss,  dass ist nicht der Kracht, den man grad lesen sollte. Aber dieser ist mir zugefallen und ich war neugierig, was er über Teheran zu erzählen hat. Ich war etwa zur gleichen Zeit dort. Das ist die Zeit des Endes des Shah-Regimes. Und ja, vor allem die Welt der Expats und einer gewissen Oberschicht  habe ich ähnlich erlebt. Natürlich nicht so schrill, wie sie Kracht schildern kann.  Nach dem Tod von Christopher  öffnet Mavrocordato ein Buch von Karl Mannheim, in dem viel Geld versteckt ist und das nun unser Held bekommt, mit dem Auftrag, um den mythische Himalaya-Berg Kailasch zu wandern. Schon eine einzige Umrundung wäscht die Sünden eines ganzen Lebens rein.  Das macht er dann auch und landet schliesslich in einem chinesischen Gefängnis.

 

„Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe michgebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“


Franz Kafka: Das Schloss

6. Mai 2021

Hätte ich doch schon seit langem mal lesen sollen, nicht wahr. Aber wenn man mal was über die Bürokratisierung und die Ueberwachung lesen will, ist man mit „Das Schloss“ immer noch sehr gut bedient, obwohl doch schon knapp 100 Jahre alt. 


Jean-Pierre Rochat: Chaque jour une histoire/ Jeden Tag eine Geschiche

29. April 2021

Jean-Pierre Rochat hat während der Dauer der „Sculpture Walser“ am Bahnhof Biel täglich eine Geschichte geschrieben und die vor Ort vorgetragen. Jetzt sind sie in Buchform zweisprachig erschienen. Zur Erinnerung: Das Erinnern an Robert Walser fand vom 18. Juni bis am 8. September 2019 unter der Regie von Thomas Hirschhorn statt. Rochat war wie Hirschhorn jeden Tag in der Sculpture. Yves Raeber hat die Texte kraftvoll ins Deutsche übersetzt.

Der Bauer Rochat macht sich so seine Gedanken über die bewohnbare Hirschhorn-Installation, darüber, was Kunst sein kann oder ist, über Hirschhorn selber, über die Leute, die vor der Installation schon den Platz vor dem Bahnhof bevölkerten und nun das  Holz- und Klebeband-Provisorium in Beschlag nehmen. Und über Walser natürlich, den Aussenseiter, der ihn täglich begleitet. Und über jene, die ihn vom Markt her kennen und ihn jetzt nicht mehr grüssen, weil er hier in einer ganz anderen Rolle steht.

Ein Vorwort wäre toll gewesen. Wer weiss denn noch, wie das damals 2019 auf dem Bahnhofplatz in Biel war?

„C’est aussi un enseignement de Walser, la disparition, la retraite, de son vivant la marche arrière vers l’obscurantisme de l’autoritarisme du conformisme d’une société sans accros. »

 

« Auch das lehrt uns Walser, das Verschwinden, den Rückzug  aus dem Leben, den Rückwärtsgang in das verdunkelte, gegängelte, duckmäuserische Dasein einer Gesellschaft ohne Ecken und Kanten.“


Virginie Linhart: Le jour où mon père s'est tu

25. März 2021

Virginie Linhart ist die Tochter von Robert Linhart. 1966 geboren. 2008 schreibt sie dieses Buch über das Schweigen ihres Vaters und über ihre Kindheit. Nicht nur über ihre eigene Kindheit, auch über jene ihrer Kameraden, die wie sie Eltern hatten, die 1968 in maoistischen Organisationen organisiert und sehr engagiert waren. Auffallend erzählen alle, dass sie sich am meisten daran störten, dass ihre Eltern sich zu Hause nackt bewegten. Sie störten sich weniger daran, dass ihre Eltern stundenlang über Politik sprachen und sich wenig um sie kümmerten. Das schenkte ihnen viel Freiheit. Ueberhaupt, das WG-Leben kommt gut weg. Im Gegensatz zu dieser Abwesenheit von Erziehungseingriffe fällt auf, dass alle Kinder zu grossen schulischen Leistungen angehalten wurden. Nicht wie heute, wo die Eltern finden, die Kinder sollen glücklich sein, seien sie angehalten worden, beste Schüler zu sein. Es war für die Eltern, die selber an den besten Schulen ausgebildete wurden,  auch kein Problem ,  ihre Kinder auf Schulen des Klassenfeindes zu schicken. Eine Ausnahme bildeten etwa die Eltern des auch bei uns bekannten Thomas Piketty. Sie nahmen die maoistischen Postulate sehr ernst, brachen ihr Studium ab und fingen, ohne davon eine Ahnung zu haben, ein Leben als Ziegenhirten auf dem Land an, mit dem Resultat, dass die Familie sehr mit der Existenz zu kämpfen hatte. Virginie Linhart geht auch der Frage nach, weshalb so auffallend viele in der Elite der 68er Bewegung Juden waren. Der Krieg gegen die Nazis sei von der UdSSR gewonnen worden, also hatte man Sympathien für den Kommunismus und für Stalin. Die Grosseltern verstanden sich als Ueberlebende, die Eltern auch. 68 versprach nun „Leben“, nicht einfach weiter „überleben“.  Diese Kindergeneration ist überhaupt nicht mehr im gleichen Masse engagiert wie ihre Eltern. Sie wählen allenfalls die linken KandidatInnen, mehr aber nicht. Ihre Eltern hätten sich wie eine Elite aufgeführt, arrogant, besserwisserisch. Virginis Vater, ein brillianter Redner, verstummte für 25 Jahre. Nach einem Unfall war er plötzlich wieder ganz der Alte, allerdings hochgradig manisch, um dann wieder in Schweigen zu verfallen.  


Robert Linhart: L'Etabli

25. März 2021

L’établi – das ist der Werkbank. L’établi, das waren auch ein paar hundert  militante Intellektuelle in Frankreich, die sich ab 1967 " etablierten ", sich in Fabriken und Werften anstellen liessen. Die Idee und der Begriff stammen aus einem Text von Mao Zedong aus dem Jahr 1957.  In China verfrachete er die Intellektuellen mit Gewalt in die Arbeiter- und Bauernwelt, in Frankreich ginge sie freiwillig, um das Leben in der Fabrik kennenzulernen. Robert Linhart wurde bei Citroën angestellt, in der Fabrikation  der 2CV. Er erzählt von der Fliessbandarbeit, der Ueberwachung, der Repression, des Rassismus. Nachdem Linhart bei den Kommunisten rausgeflogen ist, gründete er 1966 einen maoistischen Flügel. Klar, dass er, als promovierter Soziologe und Althusser-Schüler, mit dem guten Beispiel voranging und Ende 68 in die Fabrik ging. Er blieb da ein Jahr, bis man ihn entliess.

Wie liest sich das Buch heute? Die Fliessbandarbeit hat sich zwar verändert, aber Ueberwachung und Repression haben eher zugenommen, wenn man den heutigen Berichten glauben will (Ich selber kenne diese Arbeit nicht). Er berichtet auch von der Schwierigkeit, die ArbeiterInnen zu mobilisieren. Ich finde, dass das Buch immer noch ausgezeichnet ist. Und zwar auf allen Ebenen.  Man liest es als Reportage, als soziologische oder ethnographische Studie oder als literarischen Essay.

1981 versuchte Linhart sich das Leben zu nehmen. Er versank anschliessend in Schweigen. Hielt zwar noch Vorlesungen, äusserte sich aber nicht mehr öffentlich, er der ein begnadeter Redner war. Auch zu Hause brümmelte er nur noch bisschen herum.

« Essayez donc d'oublier la lutte des classes quand vous êtes à l'usine : le patron, lui, ne l'oublie pas. »

 

 


Thomas Flahaut: Les nuits d'été

16. März 2021

Sommer 2016. In Les Verrières (eigentlich Audincourt, Vorort von Montbéliard) treffen sich drei 25jährige Jugendfreunde, Louise, ihr Bruder Thomas und Mehdi. In diesem Quartier wohnen ihre Eltern. Der Vater von Thomas hat als Grenzgänger, nachts, in der Schweiz gearbeitet. Thomas hat in Besançon studiert, ohne je abzuschliessen, ohne den Eltern das Scheitern mitzuteilen. Louise arbeitet an einer Diss über die Grenzgänger. Mehdi ist auch Grenzgänger, arbeitet in Nachtschichten in einer Fabrik im Berner Jura, in der auch der Vater von Thomas arbeitete.  Tagsüber hilft er seinem Vater aus, der vor einem Supermarkt gegrillte Poulets verkauft.  Im Winter arbeitet er in einer Skistation im Wallis. Jetzt arbeitet auch Thomas in der Schweiz, in der gleichen Fabrik, wo sie alle nicht wissen, was sie da eigentlich herstellen. Also, was läuft zwischen den Jungen, was aus der entstehenden Liebesbeziehung zwischen Mehdi und Louise, was zwischen ihnen und ihren Eltern, alle aus Arbeiterverhältnissen, was ist damit, dass sie über der Grenze Arbeit finden müssen und schliesslich, was ist mit dieser Nachtarbeit. Die ist nicht mehr wie früher Fliessbandarbeit, sondern die jungen Leute haben eigentliche Automaten zu bedienen, die Frauennamen tragen. Schweizer sehen sie nie.

Thomas Flahaut hat selber in einer solchen Fabrik gearbeitet, um sein Studium am Literaturinstitut in Biel zu finanzieren. Heute lebt der dreissig Jährige in Lausanne. Auch das Milieu im Vorort von Montbéliard kennt er gut, er ist dort als Arbeiter- und Grenzgängerkind aufgewachsen.

Wir haben es mit einem Grenzgängerroman zu tun (gibt es diese Kategorie?). Ein Arbeiterroman. Die sind ja nicht mehr grad so häufig. Er steht ganz in der Tradition von Robert Linharts „L’Etabli“. Linhart hat ein Jahr als Maoist in einer Citroën-Fabrik gearbeitet und darüber geschrieben.

 

 «Ma grand-mère, mes deux grands-pères, mon père étaient des frontaliers. Je tiens à en parler parce que j’ai l’impression qu’on laisse trop cette question aux fachos, à l’imaginaire de l’extrême droite. Je veux simplement montrer le destin de ces gens, décrire des vies qui sont celles de mes amis et de ma famille. » 


Colum McCann: Zoli

13. März 2020

Es geht um eine Rromni, namens Zoli (eine Zigeunerin und das ist nicht abwertend gemeint, sondern allein historisch). Ihre Eltern sind bei einem Pogrom der slowakischen Hlinka-Gardisten (Nazis) ermordet worden. Man hat sie mit Ross und Wagen auf einen vereisten See getrieben und dann das Eis zum Einbrechen gebracht. Zoli wächst bei ihrem Großvater auf, der ihr mit Karl Marx' "Kapital" das Lesen beibringt, was doch ziemlich unüblich für ein Zigeunermädchen war. Sie überlebt den Terror der slowakischen und schließlich deutschen Faschisten und reüssiert in der Nachkriegsslowakei als "proletarische Dichterin". Zoli ist er polnischen Rroma-Dichterin Bronislawa Wajs (bekannt als Papusza) nachempfunden. Doch die revolutionäre Aufbruchstimmung verflüchtigt sich recht bald, bald werden die Zigeuner wieder verfolgt und in Blocks umgesiedelt. Ihre Sippe verstösst Zoli, weil sie sich mit den Gadje eingelassen hat. Sie flieht über Oesterreich nach Italien und vernichtet unterwegs dann auch ihr Parteibuch. Die Geschichte endet in Paris, wo sie ihre Tochter besucht und eine frühere Gadje-Liebe trifft.

 

 

 


Daniel de Roulet: L'oiselier

8. März 2021

Das Buch war die Grundlage für ein Filmprojekt von Werner Schweizer. Daraus ist nichts geworden. Die Affäre ist auch nach über 40 Jahren immer noch ungeklärt und brisant. Kurt Furgler hat uns da einige Erklärungen vorenthalten.  Der leicht gekürzte Artikel in der BZ vom 9.4.20 von Stefan von Bergen fasst die Ereignisse zusammen:

 

„„Die Affäre Flükiger» Werner Schweizers Filmprojekt über den ungeklärten Todesfall Flükiger ist gescheitert. Sechs Jahre lang ist Regisseur Werner Schweizer (64) nun für eine Recherche in seine Jugendzeit eingetaucht. Die 40 Jahre zurückliegende Geschichte, über die er einen Spielfilm plant, ist zugleich tragisch und spektakulär. Es geht um den Berner Soldaten und Bauernsohn Rudolf Flükiger, der im Herbst 1977 im Jura eines gewaltsamen Todes starb. War er ein Opfer separatistischer Heisssporne im Jurakonflikt? Oder kam er gar Terroristen der Rote-Armee-Fraktion (RAF) in die Quere, die im Jura herumgeisterten? Klar ist: Kein Geringerer als der damalige Justizminister Kurt Furgler hintertrieb die Aufklärung. Was für ein Stoff! Aber jetzt hat der Film über den bis heute ungeklärten Fall und dessen immer noch anhaltende Sprengkraft ein vorzeitiges Ende erfahren. Nachdem das Amt ein erstes Fördergesuch genehmigt hatte, lehnte es ein Herstellungsgesuch im Umfang von knapp 1 Million Franken nun ab. Schweizer muss nun den schon engagierten Schauspielern Stefan Kurt, Lorena Handschin und Krunoslav Sebrek absagen. Sie hätten die Hauptrollen gespielt: Bundesrat Kurt Furgler, dessen Tochter Flavia und den legendären Journalisten Niklaus Meienberg. Dem Filmdrehbuch liegt die noch unveröffentlichte Erzählung «L’Oiselier» des welschen Schriftstellers Daniel de Roulet zugrunde. Dieser hat die wahre Geschichte rund um die drei realen Figuren fiktional angereichert. Meienberg war tatsächlich mit der  Furgler-Tochter Brigitta liiert und rieb sich an deren Vater, dem machtbewussten CVP-Bundesrat. In der Realität hat Meienberg allerdings nicht erforscht, wie Furgler den mysteriösen Fall aus dem Jura für seine politischen Pläne zu nutzen versuchte. Die von de Roulet erfundene Konstellation mit den damals national bekannten Ostschweizer Kontrahenten Furgler und Meienberg ist aber eine plausible, kühne Fiktion. Nun kann es vorkommen, dass ein Filmprojekt die Gnade der Geldgeber nicht findet. Damit muss ein Regisseur rechnen. Bei Schweizers Spielfilm kann man sich allerdings fragen, ob die Zuständigen im Bundesamt für Kultur (BAK) wirklich berücksichtigt haben, wie relevant und exemplarisch der Stoff ist . Die fatale Geschichte beginnt am Abend des 16. Septembers 1977, als der 21 Jahre junge Flükiger aus dem bernischen Jegenstorf von einem nächtlichen Postenlauf nicht in die jurassische Kaserne Bure zurückkehrt. Einen Monat später findet man seinen Leichnam in einem nahen Wald in Frankreich – zerfetzt von einer Handgranate. Die Gerichtsmediziner können die Todesursache nicht eruieren. Sie propagieren einen Suizid, obwohl Flükigers Familie widerspricht. Zwei Tage nach dem Leichenfund erhält die Zeitung «L’Impartial» in La Chaux-de-Fonds das anonyme Schreiben eines offenbar reuigen Mitglieds der Béliers, einer militanten Separatistenorganisation. Die Person berichtet, man habe Flükiger nachts ergriffen, um ihn nackt auf dem Berner Bundesplatz auszusetzen – als Aktion für die Autonomie des damals noch zum Kanton Bern gehörigen Jura. Auf dem Transport im Autokofferraum sei Flükiger aber erstickt. Die gesellschaftliche und politische Atmosphäre im Jura ist da gerade hoch angespannt. Die Abstimmungsplebiszite von 1974 und 1975 haben zu Gewaltakten der zwei verfeindeten Lager geführt, des separatistischen und des probernischen. Jetzt platzt noch der Fall Flükiger in diese Stimmung. Berner Politiker fordern von den Justizbehörden des Bundes eine lückenlose Aufklärung. Deren Chef Kurt Furgler aber bleibt defensiv und beharrt auf der Suizidthese. Für den September 1978 ist nämlich schon die nationale Abstimmung für die Schaffung eines Kantons Jura angesetzt. Käme jetzt aus, dass ein Berner Soldat bei einer Aktion militanter Separatisten umkam, könnte die Zustimmung des Schweizer Volks unsicher sein. Die Kantonsgründung gehört aber zu Furglers Prestigeobjekten: Er will die für die Schweiz einzigartige Zerreissprobe im Jura lösen. Der Auftritt der RAF-Terroristen Der Showdown der Rote-Armee-Fraktion (RAF) drängt dann den Fall Flükiger aus den Schlagzeilen – und legt zugleich eine neue Spur. Am 18. Oktober 1977 stürmen deutsche Sicherheitskräfte im ostafrikanischen Mogadiscio ein Passagierflugzeug, mit dessen Entführung Terroristen die RAF-Topterroristen aus dem Gefängnis freipressen wollten. Am Tag darauf entdeckt man im juranahen Mulhouse den von der RAF ermordeten deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Informationen der französischen Polizei legen nahe, dass die Terroristen den entführten Schleyer durch den Schweizer Jura transportiert haben, wo sie in einsamen Scheunen Rückzugsräume unterhielten. Bald kursiert die spektakuläre Vermutung, Flükiger sei auf seinem Waldlauf genau diesen Terroristen in die Quere geraten. Erst im Frühjahr 1978 wird publik, dass separatistische Béliers am gleichen Abend unweit der Kaserne Bure eine nächtliche Strassensperrung durchgeführt haben. Die Spuren sind da schon erkaltet. Die Untersuchungsbehörden forschen trotz des Drucks aus dem Kanton Bern im Fall Flükiger nicht weiter nach. Sie ziehen sich mit der Behauptung aus der Affäre, keine Spur lasse sich mehr erhärten. Furgler persönlich veranlasst bei der Berner Tageszeitung «Der Bund», weitere Recherchen einzustellen. An der Urne wird derweil die Gründung des Kantons Jura gutgeheissen. Dessen neu geschaffene Justizbehörde stellt die Untersuchungen im Fall Flükiger ein. «Dieser Stoff lebt von einer unglaublichen Koinzidenz aufregender Ereignisse, die in einer Atmosphäre der Gewalttätigkeit und der Hysterie politisch aufgeladen wurden», sagt Regisseur Schweizer. Die Geschichtsforschung in der Schweiz hat diese Periode aus den bleiernen letzten Jahren des Kalten Kriegs bis jetzt links liegen lassen, obwohl es wohl eine der heftigsten inneren Schweizer Krisen seit dem Landesstreik von 1918 ist. Umso wichtiger wäre gewesen, dass Schweizers Film diese Jahre ausleuchtet. Der ablehnende Entscheid des BAK verunmöglicht das vorderhand. Jurafrage geht den Bund etwas an.  Pikant an der Ablehnung ist auch: Sie kommt ausgerechnet vom Kulturamt des Bundes, der in der immer noch unerledigten Jurafrage eine Vermittlerrolle zwischen den Kantonen Bern und Jura spielen sollte. Im unversöhnlich gespaltenen Städtchen Moutier steht noch einmal eine Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit an. Schon beim ersten, später annullierten Urnengang wurde den Bundesbehörden eine allzu passive Rolle vorgeworfen. Die mutlose Ablehnung von Schweizers Filmprojekt korrigiert diesen Eindruck sicher nicht. «Das bis heute anhaltende Schweigen im Fall Flükiger ist die Speerspitze des Schweigens über das Leiden im Jurakonflikt», sagt der in Yverdon lebende jurassische Historiker Clément Crevoisier. Die wenigen tragischen Todesfälle im Jurakonflikt und das Leiden der betroffenen Familien bilden für ihn exemplarisch ein politisches und gesellschaftliches Klima der Verhärtung ab. «Erst wenn diese Wunden angesprochen werden, kann es im Jurakonflikt eine Versöhnung geben», sagt Crevoisier. Im Interview mit dieser Zeitung stellte er Anfang Jahr ein Unverständnis der Restschweiz für den komplexen Konflikt im peripheren Jura fest. Auch daran hätte Werner Schweizers Film etwas ändern können. Noch gibt der Berner Filmer und Winzer nicht auf: «Ich überlege mir nach den aufmunternden Reaktionen, den Fall Flükiger als persönlichen Dokumentarfilm zu erzählen», sagt Schweizer. Auch das BAK hat ihn auf diese Möglichkeit hingewiesen. Niklaus Meienberg würde dann allerdings aus der Geschichte rausfallen.“


Monika Helfer: Vati

10. Februar 2021

Im Roman „Die Bagage“ erzählte Monika Helfer die Geschichte ihrer Grossmutter, deren Familie, ihrer Bagage. Nun ist ihr Vater an der Reihe, der mit einem Bein aus dem Krieg zurückkommt. Ein Studium der Naturwissenschaften ist nicht mehr möglich, er wird schliesslich Verwalter eines Kriegsopferversehrtenheims im Vorarlbergischen. Vor allem aber ist er ein Büchernarr. Die Bücher stürzen schliesslich die ganze Familie ins Elend. Vielleicht noch besser als in der „Bagage“ setzt Helfer Erinnerungstücke zusammen, alles ist bewundernswert leicht erzählt  - bei aller Trauer und Widerwertigkeit. Am nächsten Dienstag ist Monika Helfer mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier zu Gast in der Sendung „Willkommen Oesterreich“ im ORF1.


Nicolas Feuz: Le miroir des âmes

4. Februar 2021

Nicolas Feuz ist nicht nur Krimiautor, sondern auch Staatsanwalt in Neuenburg. Wie also Ermittlungen laufen, weiss er genau. Weiss auch, wie die Justizräder drehen. Die Verbrechen und ihre Ausüber sind aber so brutal, dass man eher an eine mexikanische Mafia oder so denkt. Schauplatz ihrer Untaten ist Neuenburg, mal auf dem See, in Auvernier, mal Richtung La Tourne oder Les-Ponts-de-Martel. Wenn ich wieder mal in der Gegend bin, werde ich an die dort verübten Verbrechen denken müssen. Das wäre jetzt also nicht nötig gewesen.


Bart Van Loo: Burgund. Das verschwundene Reich

29. Januar 2021

Wie war das schon wieder mit dem Burgund ? Weine und Moutarde de Dijon, klar. Das Burgund, das wir heute so nennen, war lange Zeit viel weniger Burgund als Belgien und die Niederlande.  Also die ersten Burgunder kamen von der Insel Bornholm und siedelten sich im Burgund an, Hauptstadt war Genf. Im Laufe der Geschichte, durch Glück in den Schlachten und durch geschickte Heiraten, entstand ein Herzogtum zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich. Der Schwerpunkt verschob sich aber immer mehr nach Norden. Dort ging die Post ab, in den Handelsstädten wie Brügge, Gent, Lüttich – und dank der Tuchproduktion. Lange Zeit war diese Region sogar abgeschnitten vom eigentlichen Ursprungsland. Karl der Kühne wollte das ändern und ist in diesem Zusammenhang gegen die Eidgenossen losgezogen, was ihm bekanntlich nicht so gut bekam (Grandson, Murten, Nancy +1477). Das war dann der Anfang vom Ende eines Reiches (Merke: Reiche sterben auch mal). Die Burgunder Herzoge liebten den Luxus und den Prunk so sehr, dass es den Habsburgern zu viel war und die Franzosen blass vor Neid wurden. Die haben Feste veranstaltet, wie man es sich nicht vorstellen kann. Ein hölzerner Löwe liess Wein aus seinen Pranken strömen, ein Eichhörnchen spendete Rosenwasser, ein Wildschwein kackte beim Anheben seines Schwanzes Radieschen. Viele der Herzoge waren äussert grausam, sie konnten sich nur an der Macht halten, weil sie regelmässig gegen ihre eigenen Städte Krieg führten und die Bewohner mit auserlesenen Methoden demütigten. Dabei waren sie alle sehr fromm. Es ist nicht so, dass sie Zyniker waren, die das blöde Volk glauben liessen, sie glaubten selber sehr an Gott und beteten viel. Und weil sie so reich waren, haben sie auch die Künstler gefördert, Jan van Eycks, zum Beispiel. (Gut, dass ich jetzt weiss, dass ich ein Burgunder bin, aus Flandern;) https://fr.wikipedia.org/wiki/Heule)


Anne Marie Jaton: Charles-Albert Cingria

19. Januar 2021

Charles-Albert Cingria (1883-1954) gehört zu den bedeutendsten Autoren der französischen Schweiz. In der deutschen Schweiz ist er so gut wie unbekannt. Er ist tatsächlich ziemlich sperrig, voller Widersprüche, passt in keine Schublade und hat trotz allem viel Fans im Welschland und in Frankreich.

Er ist in Genf geboren. Seine Familie stammte aus Ragusa (Dubvronik), später zog sie nach Konstantinopel. Seine Mutter war französischer/polnischer Herkunft. Er schrieb über alles, was ihm begegnete, was ihm in die Hände fiel, er liebte den Rhythmus der Sprache (war auch sehr begabter Musiker mit Orgeldiplom), liebte Jazz und das Mittelalter. Er war ein Avantgardist und verachtete gleichzeitig die Avantgardisten. Seine Texte passen in keine der gängigen Kategorien. Wenn er etwa über die legendäre Reine Berthe schreibt, ist das keine historische Studie (aber auch), kein Essay (aber auch), kein Roman (aber auch ein wenig). Er ist im protestantischen Rom aufgewachsen und war ein glühender Katholik. Sein Bruder Alexandre ist als Maler bekannt geworden, beide verkehren sie mit Ramuz, bald lebt er in Paris, kennt Claudel, Satie, Modigliani, Artaud, vor allem aber Stravinski. Er muss ein grossartiger Erzähler und Entertainer gewesen sein, aber immer völlig abgerissen, immer mit dem Fahrrad unterwegs. Besonders St.Gallen hat es ihm angetan, d.h. natürlich das Kloster und die Stiftsbibliothek. Zeitlebens hatte er sich nämlich mit den Neumen befasst, das sind jene Zeichen, jene Würfeli die zur Notation einer Melodie, etwa im gregorianischen Gesang, verwendet werden. Im Gegensatz zu vielen Autoren unserer Tage weiss man nichts über sein Intimleben, keine Frau, kein Mann in seinem Leben und kein Wort darüber. Er stirbt an einer Cirrhose in Genf.

 

Cingria war kein Kind der Aufklärung, eher ein Jünger von Thomas von Aquin, er glaubte, dass wir Gott durch die Schöpfung erkennen können. Als junger Autor stand er auch im Kontakt mit Gonzague de Reynold und schrieb auch für die voile latine, deren Mitbegründer Reynold war. Gonzague de Reynold bekämpfte die Demokratie, war ein Bewunderer von Salazar und Mussolini (Langzeit Bundesrat Etter war sein treuer Schüler). Mit Reynold hat sich Cingria aber auch überworfen und verpasste ihm eines schönen Sonntags nach der Messe in Carouge eine Ohrfeige. Warum weiss ich auch nicht mehr. Aber geschadet hat es dem Gonzague sicher nicht.  


Colum McCann: Apeirogon

6. Januar 2021

Der Titel ist nicht gerade einladend. Apeirogon. Da musste ich erst nachschlagen: In der Geometrie ist ein Apeirogon ein verallgemeinertes Polygon mit einer zählbar unendlichen Anzahl von Seiten. Das passt für einen Roman über Palästina/Israel, da hat alles zig Seiten. Aber das ist noch nicht alles mit den Zahlen. Der erste Teil besteht aus 500 durchnummerierten mehr oder weniger kurzen Texten, im letzten Teil nochmals 500 Texte aber in umgekehrter Reihe nummeriert. In der Mitte ist unter der Nummer 1001 auf zwei Seiten eigentlich die ganze Geschichte erzählt. Vorher und nachher sozusagen im O-Ton die beiden Protagonisten: der Israeli Rami, der seine Tochter Smadar bei einem Selbstmordattentat verloren hat und der Palästinenser Bassam, dessen Tochter Abir von einem Grenzsoldat erschossen wurde. Das klingt vielleicht alles ein wenig kompliziert, ist es überhaupt nicht. Die 600 Seiten lesen sich sehr leicht, ich weiss nicht so richtig warum, man kann das Buch schlecht weglegen, es ist ein pageturner und ist grossartig geschrieben. Um noch bei den Zahlen zu bleiben: 1001, das erinnert natürlich an Tausendundeine Nacht. Smadar hat die Geschichte gerne gelesen, besonders die vom Buckligen. Eine arabische Ausgabe von Tausendundeine Nacht befand sich auch in der Brusttasche von Abdel Wael Zwaiter. Er wurde von einem Mossad-Agenten 1972 in Rom mit dreizehn Pistolenkugeln niedergestreckt. Eine durchbohrte das Buch. Die Tötung war eine Racheaktion für die Toten von den Olympischen Spielen in München. Zwaiter war alles andere als ein Terrorist, er habe die Zauberflöte besser gekannt als die PLO-Charta. Ein anderes Beispiel. Bassam trug die Häftlingsnummer 220-284 (er war sieben Jahre im Gefängnis). Einem Wärter (er hiess Herzl) ist aufgefallen, dass das befreundete Zahlen sind. Das heisst, zwei Zahlen sind befreundet, wenn die Summe der echten Teiler der einen Zahl – ohne die Zahl selbst – die andere ergibt und umgekehrt  (220 1,2,4,5,10,11,20,22,44,55 und 110 = 284. Addiert man die Teiler von 284 – 1,2,4,71 und 142 = 220) Von 0 bis 1000 ist dieses das einzige befreundete Zahlenpaar. Unter der Nummer 220 im Roman wir das erklärt (aufsteigend und absteigend) und unter 284 befindet sich ein Quadrat. Was das alles bedeutet? Vielleicht, dass Zahlen ein Versuch sind, die Wirklichkeit zu erklären, abzuzählen, zählbar unendlich. Ein anderes immer wiederkehrend Element: die Zugvögel. Die Gegend ist eine der wichtigsten Zugvogelrouten. Andere Fährten führen zu Borges, Kafka, Rumi, Rilke, zur Bibel und zum Koran. 20 kleine Fotos sind in den Text gestreut, ganz in der Art von Sebald, Verbotsschilder, Betonpfeiler und der Aufkleber auf Ramis Motorrad: Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden. Im Mittelpunkt aber die Geschichte der beiden Männer, die Freunde werden. Wie sie Freunde werden, wie sie die Rache überwinden, wie sie unbeirrt miteinander auftreten und immer wieder ihre Geschichte erzählen. Man kann das Buch verschlingen oder aber mit Google lesen, die Personen, die Orte nachschlagen, Beit Jala etwa, das Hotel Everest dort oder das Weingut Cremisan, Orte der Begegnung von Bassam und Rami.  Natürlich hat das Buch eine Botschaft, die einleuchtet: Beendet die Besatzung, beendet die Besatzung.