Weisheiten aus Afrika

29.12.2018

Modibo hat mir das Büchlein geschenkt. Mit den Weisheiten der Völker ist das so eine Sache. Genauso wie mit dem Volksmund. Wessen Mund ist das genau? Vielleicht der des Missionars, der so eine Weisheit von der Kanzel aus verkündete, dann sie vielleicht, ein wenig verändert, mündlich weitergegeben, dann von einem Ethnologen aufgezeichnet worden. Und der hat dem Verlag die Weisheiten angeboten, zum Beispiel. Aber man kann diese Sprüche sich einfach auch so zu Gemüte führen. Am besten gefällt mir: "Nach dem Takt, den man trommelt, wird auch getanzt." Da sei aus Ostafrika. Und die haben doch recht.


Thomas Krumenacker: Vögel in Israel

29. Dezember 2018

Ganz früher war das ein Durchgangsgebiet, sagen die Historiker. Durchgang zwischen wichtigen Orten wie Alexandrien, Damaskus, Bagdad oder noch weiter zwischen Asien, Afrika und Europa. Heute liegt dort neben anderen Ländern Israel und es bleibt ein Durchgangsgebiet für die ...Vögel. Massenhaft ziehen sie etwa von Sibirien über das Schwarze Meer, dann dem Jordantal nach, übers Tote Meer ins Rote Meer und nach Afrika. Auch "unsere" Störche (siehe Bild) machen da Halt. Smadar Foguel hat mir das Buch geschickt und erinnert mich daran, dass ihr Land nicht nur aus Politik besteht. Man erfährt im Buch auch, dass durch die Trockenlegung von Sümpfen in der Pionierzeit den Tieren übel mitgespielt wurde und dass es in der Ornithologie schon immer grenzüberscheitende Zusammenarbeit gab.


Rinny Gremaud: Un monde en toc

10.Dezember 2018

Das ist eigentlich ein Reisebuch. Rinny Gremaud reist in drei Wochen um die Welt und schreibt darüber. Allerdings ist der Reisebericht alles andere als wir uns gewohnt sind. Sie besucht die grössten Malls der Welt, sonst fast nichts. Noch paar Flughäfen und Flugzeuge dazu. Jetzt könnte man sagen, dass wir die Kritik des Warenhauses schon gehabt haben. Ok. Das ist aber ganz anders. Das Besondere an diesem Text sind die ganz kleinen Blicke aus der Mall, diese Orte, wo man überall und nirgends ist, wo das Leben draussen gänzlich fakultativ ist, wo der öffentliche Raum durch den Mall-Raum ersetzt ist. Das Buch erinnert mich an die Reisebücher von Nicolas Bouvier. Er erzählt uns gekonnt von atemberaubenden Landschaften, von Menschen, die in ihren Kulturen zu Hause sind. Eigentlich ist er einer der letzten Vertreter der Romantik. Rinny Gremaud reist durch eine Welt, die völlig kaputt und am Ende ist. Vielleicht ist das auch romantisch – schwarze Romantik.
„Voyager pour prendre le pouls d’une humanité livrée au libéralisme le moins éclairé a tout du suicide moral. »
Rinny Gremaud ist in Korea geboren, mit drei in die Schweiz gekommen und arbeitet als Journalistin. Jetzt wollen wir mal schauen, ob sich da nicht ein Deutschschweizer Verlag findet, der das Buch übersetzen will. Das war ein Buchtipp von David Collin!


Myriam Wahli: venir grand sans virgule

8. Dezember 2018

Das musste ich lesen, denn die Autorin kommt aus Moutier und die Geschichte spielt in Hautes-Roches, das zu Roches gehört und in einer Talweitung in der Birsschlucht liegt (BE). Und sie ist eine jener SchriftstellerInnen, die zum Schreiben nicht die Stille suchen, sondern sich den Kopfhörer aufsetzen und sich das Hirn mit lauter Musik volldröhnen, um sozusagen das Hirn auszuschalten, damit nur noch der Bauch schreibt. Dafür ist dann für einen Erstling ein doch recht kontrollierter und gestalteter Text herausgekommen. Eigentlich erinnert nur die Tatsache, dass die Geschichte ohne Komma auskommt, an diese Schreibmethode. Ohne Komma - das ist schließlich auch so etwas wie das Leitmotiv der Geschichte. Die Geschichte von einem Mädchen in Hautes-Roches, am Rand von allem, in einer kleinen Welt, in der das Alte dem Neuen und das Französische dem Deutschen, wie die Füchse den Hasen Gute Nacht sagen.


Dick Marty: Une certaine idée de la justice

29. November 2018

Den Klatsch liest man natürlich auch gerne – dass er Del Ponte nicht so richtig mag, Calmy-Rey auch nicht, dafür aber Fidel Castro. Erdogan dann wieder weniger… Der Mann hat im Auftrag des Europarates etliche Berichte verfasst, die alle Zündstoff in sich hatten. Empfohlen hat er sich ja mit einem spektakulären Coup als Staatsanwalt im Tessin in Sachen Drogen. Das liest man alles gerne und lässt mit Mary die jüngste Vergangenheit Revue passieren. Im ersten Kapitel erzählt er, weshalb er überhaupt alles aufgeschrieben hat. Diese Geschichte ist echt crasy, aber ich möchte sie hier nicht verraten, damit ihr sie selber lesen könnt. Was fällt auf? Seine sehr kritische Haltung gegenüber den USA (immerhin war er für den Freisinn im Ständerat). Das fällt natürlich im Zusammenhang mit den Untersuchungen zu den ausgelagerten US-Gefängnissen in Osteuropa ins Auge. Aber auch sonst hält er sich mit Kritik nicht zurück. Er findet auch, dass das IKRK allzu abhängig von den Vereinigten Staaten als grösstem Geldgeber ist. Da schlägt er vor, dass die Eidgenossenschaft doch das ganze IKRK-Budget übernehmen könnte. Wie wär das toll, tatsächlich. Und man bräuchte dann nicht mehr so Stellen wie „Présence Suisse“. Er wird nicht müde, die Arbeit von verschiedenen NGOs zu rühmen und erwähnt dabei vor allem die Arbeit von Frauen, die sich grosszügig und effizient engagieren. Das Buch ist übrigens Jobelle gewidmet, einem neunjähriges Mädchen in einem heillos überfüllten Gefängnis auf den Philippinen. Frauen einer örtlichen NGO haben ihn dahingeführt. Auf dem Cover sieht man einen Ausschnitt aus dem berühmten Bild von Norman Rockwell „The Problem We All Live With“ von 1963. Es zeigt die damals sechsjährige Ruby Bridges, das auf dem Weg zur Schule von vier Marshals begleitet werden musste, weil man in aller Deutlichkeit durchsetzen wollte, dass das afroamerikanische Mädchen seinen Platz in der Schule neben den weissen Kindern hatte. Dick Marty ist durch und durch Jurist im Dienste der Menschenrechte, entscheidend geprägt von Cesare Beccaria, der schon 1764 darlegte, dass weder die Todesstrafe, noch lange Gefängnisstrafen der Kriminalität Einhalt gebieten. Es sei der Kampf gegen die Straflosigkeit, die wirksam gegen das Verbrechen sei.


Florian Illies: Was ich unbedingt noch erzählen wollte

22. November 2018

Schon einmal hat Florian Illies über 1913 berichtet, über den Sommer des Jahres. Vor allem Biografisches, insbesondere über Schriftsteller und Maler. Freud, Kafka, Rilke, Kraus, die Manns. Das war grossartig. Jetzt kommt er nochmals auf das gleiche Jahr zurück. Der Personenkreis ist etwas grösser geworden, der Zeitraum greift über das ganze Jahr. Und wieder viel Anekdotisches, viel Witziges. Man liest das gern und in einem Zug. Der besondere Reiz liegt darin, dass wir, im Unterschied zu den Menschen von damals, wissen, was ein Jahr später passiert ist. Im Feuilletong streitet man sich heute, ob unsere Zeit derjenigen der Dreissiger Jahre oder doch eher der Belle Epoque gleicht. Ich bin für Belle Epoque. Ein Tipp von Dominik Landwehr! 

Riad Sattouf: L'arabe du futur 4

18. November 2018

Ich hab die ersten drei Bände mit Hochgenuss gelesen und der vierte Band, viel dicker als die früheren hat mich nicht enttäuscht. Sattouf erzählt seine Kindheit. Vater Syrer, der in Paris studierte, Mutter Französin. Inzwischen ist die Mutter mit den Kindern von Syrien in die Bretagne gezogen, der Vater als Dozent nach Saudi-Arabien. Alle bekommen ihr Fett weg, aber irgendwie liebevoll und lustig.


Ayn Rand: Für den neuen Intellektuellen

6. November 2018
Amerika, Amerika.
« Mit Erstaunen lese ich, dass Bannon sich nicht nur auf die Bibel und die Tradition des Rassismus beruft, sondern auch auf die Ideen Ayn Rands (…). Ayn Rand? Schon mal gehört? Ich nicht.“ Das schreibt Felix Schneider in einem Kontertext auf infosperber am 16.8.18. Ayn Rand? Ich habe auch noch nie was von ihr gehört. Aber das will ja wirklich nichts heissen. Jetzt bin ich allerding ein bisschen schlauer. In diesem Band sind verschiedene ihrer Texte versammelt, inklusive ein grosser Ausschnitt aus ihrem 1200-Seiten-Roman „Der Streik“ oder „Atlas Shrugged“ oder „Wer ist John Galt“. Ich habe noch selten so schlecht geschriebene Texte gelesen. Eine mittlere Qual. Aber ihre Bücher sind in den USA 25 Millionen Mal verkauft worden. Sie soll zu den einflussreichsten politischen Autoren des 20. Jahrhunderts gehören. Und wir haben noch nie von ihr gehört? Sie ist schon bald 40 Jahre unter dem Boden und gleichzeitig die Chefideologin der amerikanischen Rechten.
Sie ist in Sankt Petersburg 1905 geboren als Alissa Sinowjewna Rosenbaum. Sie vertritt einen radikalen laissez-faire-Kapitalismus und ist eine militante Atheistin. Wie kommt es also, dass sie für die doch so bibeltreuen Republikaner eine Säulenheilge wurde? Keine Ahnung. Der doch so fromme Paul Ryan etwa stieg auf Grund der Lektüre von „Atlas Shrugged“ in die Politik und er soll seinem ganzen Mitarbeiterstab die Lektüre dieses Romans aufs Auge gedrückt haben. Rand redet viel von „Vernunft“ und „Objektivismus“. Aber sie hat wohl nie in ein Philosophiebuch geschaut, sie erfindet alle Begriffe neu und behauptet drauflos, dass die Balken nur so krachen, viel schlimmer als in den esoterischen Romanen, die man uns in letzter Zeit vorgesetzt hat. Es geht in ihrer „Philosophie“ darum, ausschliesslich für sich selber zu sorgen. Punkt. Das kann man vielleicht aus ihrer Biografie verstehen, mit dem Hass auf den Kommunismus. In ihrem grossen Roman ist das nun in eine ziemlich trümmlige Geschichte verpackt, die durch häufige direkte Reden auffällt. So ganz in einem prophetischen Stil: „Ich aber sage euch…“. Oder ganz wie ein Apokalypse. Es ist ja auch die biblische Apokalypse des Johannes, die ausgerechnet die Evangelikalen so fasziniert. Je mehr nun Philosophen, Literaturkritiker auf sie eindreschen, umso anziehender wird Rand für jene, die gegen diese „Eliten“ sind. Das Buch bestätigt dem Leser, dass er nun zu jenen gehört, die den Durchblick haben und die grosse Mehrheit, die sich die 1200 Seiten nicht antun, dumm sind und dass man sie locker zertreten kann. Huch, wenn Ayn Rand im grossen Stil in Europa landet…
In diesem Youtube-Film wird einem Rand vorgelesen.
https://www.youtube.com/watch?v=Dfi9iYSHkp0
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Hanspeter Niederberger, Christof Hirtler: Geister, Bann und Hergottswinkel

1. November 2018

Rechtzeitig zu Halloween... Hab ich in einer Wühlkiste gefunden. Niederberger hat eine Fülle von Material aufgestöbert, vor allem in der Innerschweiz: Zauberbücher, Geisterabwehr in Haus und Stall, Geisterkämmerli, heilige Zeichen, Kräuter, Alraunen, Votivgaben, Betruf, Lärmmagie, Liebeszauber, usf. Zu den einzelnen Objekten assortierte er Belege über deren Anwendung, Auszüge aus Sagen, Legenden, Handbuch des deutschen Aberglaubens. Schade, dass wir häufig nicht erfahren, wo er was gefunden hat. Und selbstverständlich darf man das Eine oder Andere skeptisch betrachten. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich mancher Senn einen Spass daraus machte, dem geneigten Forscher auch mal einen Bären aufzubinden. Sind wir heute noch abergläubisch? "Wir sind alle abergläubisch", lese ich heute im Tagi. Lutz Jäncke, Neuropsychologe an der Universität Zürich, sagt das. Aberglaube sei eine Grundeigenschaft des Menschen. Das liege daran, dass unser Gehirn eine «Interpretationsmaschine» ist. 

Ein Beispiel aus dem Buch: abracadabra Eine Schwindformel. Man schreibt es auf einen Zettel und legt diesen bei Fieber oder so auf den kranken Körper. Wie die Länge des Wortes mit jeder Zeile abnimmt, so verschwindet die behandelte Krankheit.


Vasco Pedrina: Von der Kontingentierungspolitik zur Personenfreizügigkeit

28. Oktober 2018

Jetzt musste das mal sein. Ich gehöre zu denen, die Gewerkschaften schon wichtig und ok fanden und auch brav den Beitrag einbezahlen. Aber der GAV und alle Details waren mir zu viel. Ich liess es bei der Bewunderung jener, die sich da auskannten (und stellte fest, dass es da gar nicht so viele gibt). Als dann aber Roger de Weck mit der Flexicurity kam, wurde es mir dann doch etwas gschmuech. Heute muss ich feststellen, dass es etlichen lieben ehemaligen Kollegen immer noch nicht gschmuech ist. Gewerkschafter sind für sie Leute, die es noch nicht gecheckt haben, dass jetzt neue, bessere Zeiten angebrochen sind, in denen wir doch nicht mehr über fixe Arbeitszeiten diskutieren wollen. Bref, erst jetzt nehme ich mir richtig Zeit, gewerkschaftliche Arbeit zu verstehen. Und da ist diese Schrift sehr lehrreich (Vasco Pedrina, Red. Stefan Keller). Der Paradigmenwechsel von der Kontingentierung zur Personenfreizügigkeit. Da sind mir, als Bewohner eines Grenzkantons, natürlich viele Beispiele vor Augen, wo nichts so funktioniert, wie es sein sollte – aber immerhin, schon etwas. Aber ich sehe auch, wie schwierig Gewerkschaftsarbeit ist, denn wir leben in einem kapitalistischen Land. Schwierig auch, weil es immer abzuwägen gilt, inwiefern man Juniorpartner der Wirtschaft ist und wie man am dienlichsten den Arbeitnehmern zur Seite steht. Ein schwieriger Job, wenn man sich mit kleinen Siegen zufrieden geben muss.


Charilie English: Die Bücherschmuggler von Timbuktu

 25. Oktober 2018

2012/2013 haben mutige Bibliothekare tausende Bücher, besser gesagt Manuskripte in einer abenteuerlichen Rettungsaktion von Timbuktu nach Bamamko geschmuggelt und in Sicherheit gebracht. In Timbuktu sind jihadistische Gruppierungen eingedrungen und haben schon mal angefangen jahrhundertealte Mausoleen zu zerstören. Man befürchtete, dass als nächstes die Manuskripte vernichtet würden, weil auch die nicht der reinen Lehre der Jihadisten entsprachen. Aber ganz so einfach war das alles nicht. Charlie English erzählt ausführlich die Rettungsaktion, muss aber auch nach jahrelanger Recherche zugeben, dass Vieles im Unklaren bleibt. Wollen die Jihadisten, viele von ihnen waren Analphabeten, tatsächlich die Manuskripte vernichten? Wieviele Manuskripte waren es denn? Und wie zählt man sie? Ein einzelnes Blatt ist auch ein Manuskript. Wie wertvoll und relevant sind die Manuskripte – und wer soll das beurteilen? Wie kommt es, dass so viele Manuskriptkisten durch verschiedene Frontlinien gebracht werden konnten? Und, und. Je mehr man liest, umso unklarer wird eigentlich alles. Auch die Bedeutung von Timbuktu als Sammelort der Manuskripte beginnt immer mehr zu flimmern. Gab es da eine Art Schulen, Universitäten? Nichts Genaues weiss man nicht. Bewunderung für die Retter bleibt und die Dankbarkeit für die rasche finanzielle Hilfe weniger westlicher Staaten (die Niederlande etwa). Die Rettungsaktion musste lange geheim gehalten werden, weil man die Jihadisten nicht unnötig aufschrecken wollte. 

English versucht Licht in die Geschichte zu bringen, indem er uns die Entdeckungsgeschichte der Stadt schildert, von den ersten lebensmüden Forschern bis zu den französischen Kolonialisten. Da kam doch viel Mythen- und Legendenmaterial zusammen. Der Autor bemüht sich, so genau wie möglich zu sein und reiht dann manchmal Name an Name. Und die will und kann man sich nicht merken. Zurück bleiben mehr Fragen als Antworten. Das ist vielleicht gut so.


Philip Blom: Böse Philosophen

4. Oktober 2018

 Philipp Blom zeigt uns vor allem einen Pariser Salon. Es ist nicht eine Dame, die ihn führt, sondern ein Baron. Baron Paul-Henri Thiry Holbach (1723-1789). Er ist in der Pfalz geboren, kam aber schon als Kind nach Paris, hatte Geld, was dasLeben schon mal erleichterte, liebte gutes Essen und mochte es auch gerne mit anderen teilen. Das waren schon gute Voraussetzungen für einen Salon, der am Donnerstag und am Sonntag gehalten wurde. Er selber war ein ziemlich radikaler Freidenker und Atheist, was in seiner Zeit doch ziemlich gefährlich war, so dass er alles unter einem Pseudonym und auf aufwändige und komplizierte Art nur hat drucken lassen können. Blom stellt nun die Salongänger Holbachs vor – und natürlich auch die anderen Aufklärer. Er unterscheidet die radikalen Aufklärer und die anderen, wobei seine Sympathie natürlich bei den ersteren ist. Nicht zu den Radikalen gehört Voltaire, der sich so gerne auch mit den Mächtigen verstand und ein grosser Geldverleiher vor dem Herrn war. Ebenfalls nicht Rousseau, der anfänglich noch bei Holbach verkehrte, sich aber dort völlig unmöglich gemacht hat. Ein radikaler Aufklärer hatte sich gegen Adel und Klerus zu wenden und zwar ohne wenn und aber. Und zudem hatte er Atheist zu sein. Das kriegten weder Voltaire noch Rousseau hin. Beide wollten natürlich nichts mit einer Kirche zu tun haben, aber ohne ein göttliches Wesen ging bei ihnen nichts. Bei Rousseau kam das bisschen romantischer raus als bei Voltaire. Rousseau steckte noch tief die scholastische Theologie in den Knochen. Seine Schriften enthielten den Zündstoff, der eine jüngere Generation entflammen sollte, die Romantiker, mit ihrer Verehrung des leidenden Individuums, usf. Rousseau machte sich einen immensen Resonanzraum zunutze, indem er die Ideen der christlichen Tradition in einen nichtreligiösen Kontext setzte. Das ist jetzt ein bisschen arg verkürzt, einverstanden. Aber Rousseau muss ein ausserordentlich schräger und ungemütlicher Typ gewesen sein. Wenn er von einer Frau so richtig gepfitzt worden wäre, wie er sich das gewünscht hatte, wäre die Weltgeschichte anders verlaufen. Hängt die Weltgeschichte an solchen Dingen? Blom stellt mal die Frage: „Ist es möglich, dass der eigentliche Unterschied zwischen der radikalen Aufklärung von Diderot und Holbach und Rousseaus Gegenaufklärung auf nichts anderem beruht als auf den unterschiedlichen persönlichen Gestimmtheiten in Bezug auf les histoires de cul?“ Es gab schon noch anderes. Aber soviel auch nicht. Voltaire, aber auch Kant hatten nichts gegen den Kapitalismus und Kolonialismus. Besonders Voltaire, der sich schon immer in einem vorteilhaften Licht darzustellen wusste. Anders die Radikalen mit ihrer utilitaristischen Ethik: Tue, was für dich und für die Allgemeinheit nützlich ist, vermeide, was dir oder anderen schadet. Bloms Helden sind natürlich Holbach, aber dann vor allem der Enzyklopädist Denis Diderot. Aber die Geschichte machte Voltaire und Rousseau zu Siegern. Sie ruhen im Pantheon, Diderots Knochen sind in jenem Ossarium verstreut, in dem auch jene von Holbach liegen. Das war eine Empfehlung von Klaus Hersche! Merci.


Alex Capus: Königskinder

2. Oktober 2018

Er kann es immer noch. Die Geschichte ist ganz einfach, ein junges Greyerzer Paar schaut zu den Kühen auf einem Hof in Versailles. Ein Hof, wie sich ihn die Schwester von Ludwig XVI rousseaumässig ausgedacht hat. Alex Capus hat nicht nur einen tollen Stoff gefunden, er erzählt auch raffiniert und eben gekonnt.


Lucia Berlin: Was wirst du tun, wenn du gehst

29. August 2018

«Was ich sonst noch verpasst habe», die Geschichten, die vor ein paar Jahren erschienen sind, habe ich schon mit grosser Begeisterung gelesen und jetzt hat mir Franz die neueste Sammlung von Stories von Lucia Berlin zum Lesen gebracht. Traurig ist nur, dass Berlin nicht mehr erlebt, wie ihre Erzählungen gelesen werden. Alles was leben heisst, kommt vor: Liebe, Verzweiflung, Einsamkeit, Trauer, Zurückweisung, Verlangen. Sie selber hatte es nicht leicht. Zog alleine vier Söhne gross, hat als Putzfrau, Telefonistin, Spanischlehrerin gearbeitet. Hat getrunken, wieder aufgehört und wieder getrunken. Sie überlässt alles den sehr genau gesetzten Worten. Keines zuviel.


Eric Fottorino: Dix-sept ans

29. August 2018

Eric Fottorino ist ein französischer Politjournalist, war mal Chefredaktor bei Le Monde, jetzt bei unabhängigen Wochen-Zeitungen Le 1. Die Zeitung besteht nur aus einem Blatt, dreimal gefaltet, also 16 Seiten, ein Thema, in einer Stunde (wenn man Gas gibt) zu lesen. Er ist auch grosser Fan der Tour de France und war dort Reporter – und er ist Romanautor. Jetzt schreibt er, ziemlich autobiografisch, über seine Mutter, die ihn mit 17 Jahren bekommen hat. Die Mutter, Lina, ruft ihre Kinder zusammen und eröffnet ihnen, dass sie auch eine Schwester gehabt hätten… Darauf macht sich Eric auf, um doch endlich der Geschichte seiner Mutter nachzugehen. Es passiert gar nicht viel, er weiss aber seine Unfähigkeit, die Mutter zu lieben, genau zu schildern. Und immer mehr wird uns Lesern klar, was die junge Mutter erlebt hat, wie man ihr übel mitgespielt hat. Und wenn ich an einem Gymnasium Franz-Lehrer wäre, würde ich Ausschnitte mit den Schülern lesen, weil er es mit einfachen Worten schafft, uns zu berühren. 


Michel Thévoz: L'art suisse n'existe pas

14. August 2018

Michel Thévoz war lange Zeit Direktor der Collection de l’Art brut in Lausanne. Er hat viel über Kunst geschrieben, aber auch über die Waadt. Es hat mich immer erstaunt, dass er absolut global denkt, dass seine Referenzpunkte weit jenseits der Kantonsgrenzen liegen, dass ihn aber das Lokale sehr beschäftigt. Le syndrome vaudois, etwa hiess eines seiner Bücher. Und jetzt wieder. Natürlich ist der Titel nicht platt programmatisch zu verstehen, aber es geht ein weiteres Mal fast nur um die Waadt, ein bisschen noch Holbein und Anker, aber sonst bleibt man chez nous, zumindest im Welschland. Da werden die Bilder und ihre Künstler im Lichte Freuds, Lacans, manchmal Bourdieus und auch Merleau-Pontys, einem ziemlich schwierigen Phänomenologen betrachtet. Und er stellt einen roten, beziehungsweise schwarzen Faden her, jenen der Todessehnsucht. Ich musste bald mal einsehen, dass ich da vielem nicht folgen kann. Aber dank der sehr reichen und sorgfältigen Illustration, kann man dem Faden entlang ein wenig mitschwimmen. Es kommen vor: Hans Holbein, Charles Gleyre, Ferdinand Hodler, Marius Borgeaud, Le Corbusier (über dessen Cousin Louis Soutter, inzwischen einer der wichtigsten Figuren der Schweizer Malerei, hat er ein schönes Buch geschrieben), Jean-Pierre Zaugg, Jean Lecoultre, Jacqueline Oyex, Suzanne Auber, Emilienne Farny, Jean Otth, Philippe Visson, Mario del Curto (der Fotograf), Manuel Müller, Ariane Laroux, Nikola Zaric (den einzigen, den ich mal persönlich getroffen habe), Bernard Garo, Eugenio Santoro. Da sind einige drunter, die herkömmlicherweise als Art-brut-Künstler bezeichnet wurden, was Thévoz nicht macht.


Maurice Grettet, Pierre Gresser, Jean-Marc Debard: L'histoire de l'annexion de la Franche-Comté et du Pays de Montbéliard

14. August 2018

Da waren mir dann doch zuviele Details drin, aber Jean Nicole wollte, dass ich das Buch lese. Diesseits des Juras erzählt man ja gerne, dass die Franche-Comté zur Schweiz wollte, aber dass das nicht zustande kam, weil die eine Mehrheit Katholiken in der Eidgenossenschaft geschaffen hätten. So war es dann doch nicht. Habe erfahren, dass schon früh Beziehungen zur Eidgenossenschaft bestanden, dass man Beistandsverträge abschloss. Aber als es ernst wurde in der Franche-Comté hat man von den Schweizern nichts mehr gehört und gesehen. 


Jean-Pierre Rochat: La clé des champs

14. August 2018

Ein ganz neuer Erzählband. La clé des champs – etwa: seiner Wege gehen, das Weite suchen. Wir finden in den Geschichten wieder den Bauern/Sennen-Erzähler, ein bekennendes Landei, etwas unbeholfen, aber unglaublich erfolgreich bei den Frauen, die auf den Naturburschen stehen. Die meisten der „Chroniques“ sind solche amouröse, erotische Geschichten, wie wir sie aus früheren Texten kennen. Was wir auch schon kennen, ist das Verhältnis des Erzählers zu „richtigen“ Schriftstellern, jener aus der Stadt, die er einerseits bewundert, anderseits sich ein wenig lustig über sie macht. Neu ist, dass die Phantasie viel mehr Platz als auch schon bekommt, dass die Ereignisse im Imaginären weiterdrehen. Und das, sehr dicht und – eben phantasievoll erzählt.  Jean-Pierre Rochat überarbeitet seine Texte nicht im üblichen Sinn,  er schreibt mal eine Version. Lässt sie liegen, schreibt eine neue und wieder eine neue, fünf-, sechsmal. Natürlich von Hand und am Morgen ganz früh. 


Katharina Greve: Das Hochhaus

14. August 2018

Ein Comic der schon mehrfach ausgezeichneten Katharina Greve. Die Geschichte von einem einzigen Haus zu erzählen, gibt es schon in vielen Varianten. Eine der schönsten vielleicht „Der Jukubijân-Bau“ vom Aegypter Alaa al-Aswani. Hier geht die Geschichte über 102 Etagen plus Keller, wo es bereits richtig zur Sache geht. Es gibt da kein Licht, der Mann sucht was in einer Schachtel, seine Frau sollte mit der Taschenlampe leuchten, richtet das Licht aber nicht dorthin, wo Monsieur es bräuchte: „Wie schon Goethe sagte: „Mehr Licht!“ blöde Kuh!“ meint er, worauf sie nur denkt: „Wenn ich ihn JETZT umbringe, wären sogar seine letzten Worte abgedroschen!“ Das Buch ist zum Hin- und Herblättern, wenn etwa ein Paket im Erdgeschoss abgegeben wird für die Mutlus im 5. Stock. Ja was machen sie denn, die Mutlus im 5. Oder wenn im 64. Stock die Frau ihren Mann zu seiner Mutter im 6. Stock schickt, dieweil sie sich mit dem Mann vom 71. Stock vergnügt. Kurz, eine vergnügliche Lektüre, die uns Susi geschenkt hat.


Jacques Le Goff: Franz von Assisi

29. Juli 2018

Das ist keine eigentliche Biografie. In diesem Buch sind Vorträge über Franziskus aus den 60-90er Jahren von Jacques Le Goff versammelt. Le Goff ist ein Star unter den Mittelaltergelehrten, Franziskus hat ihn lange beschäftigt und er sieht ihn als eine der wichtigsten Figuren des Mittelalters an. Es ist also viel die Rede vom 13. Jahrhundert überhaupt, in Italien insbesondere. Natürlich geht es auch um Quellen und deren Kritik. Mir fällt auf, wie wenig wir eigentlich aus dieser Zeit wissen, wie anders sie war. Also zum Beispiel kommt erst zu dieser Zeit die geheime Beichte auf. Bis dahin bekannte man seine Sünden öffentlich. Dann wird allmählich klar, dass man schon in seinem Herzen sündigt, böse Vorsätze fasst, hasst, usf. Die Individuen entstehen allmählich und mit ihnen der Beichstuhl. Anderes Beispiel: Franziskus und seine Mitbrüder werden bestimmt viel gebetet haben. Aber wir wissen nicht, welches ihre Gebete waren. Bei Mönchen weiss man das ziemlich gut, welche Psalmen, welche Texte die Grundlagen für ihre Gebete waren. Ob die ersten Franziskaner, die sich ja nicht als Mönche verstanden haben, Vaterunser und Avemaria aneinandergereiht haben oder ob sie frei formuliert beteten – wir wissen es nicht. Franziskus wollte gar keinen Orden gründen, aber der Druck von Rom war so gross, dass er schliesslich hat nachgeben müssen. Ein erster Regelentwurf bestand nur aus Bibelzitaten. Das hat die Kurie schlichtweg verworfen. Das Konzept eines Drittordens hat ihm gefallen. Das ist ein Orden für Laien, für Verheiratete, die ihren üblichen Arbeiten und Verpflichtungen nachgehen. Das hätte er gerne für alle gehabt. Ging nicht. Wieso hat er so sehr an der Hierarchie gehangen? Es gab zu dieser Zeit schon viele dissidente Bewegungen, wie die Katharer, Waldenser, usw. Das wollte er nicht, er wollte sich auch nicht von den Priestern trennen, denn nur die konnten ihnen die Sakramente spenden. Es gibt übrigens die Ansicht, dass die berühmte Vogelpredigt eher aus Zorn, denn aus heiterer Freude entstanden ist. Aus Zorn nach einem dieser schwierigen Treffen mit dem Papst. Sehr schön zeigt Le Goff auch, dass Franziskus ein Kind seiner Zeit geblieben ist. Auch nach seiner Bekehrung, er war vorher ein betuchter Tuchhändler und Krieger, stand er auf die ritterlichen Manieren. Die Armut war dann die Herrin Armut, er stand auf Höflichkeit, Manieren, betete auf französisch. Wir sind im Zeitalter des Minnegesangs, aber auch der Busse. Die Urchristen hatten es eher mit den Sportlern (der Athlet Christus), der Heilige Bernhard dann mit den Kriegern. Franziskus war im Einklang mit der gothischen Sensibilität, Seine Fröhlichkeit und die seiner Brüder war die eine Seite, die andere das Verhältnis zum eigenen Körper, der nur die Quelle aller Sünden war, den es zu verachten und zu kasteien galt. Er hat seinen ersten Mitbrüdern auch jegliche Wissenschaft verboten. Bücher waren sehr teuer und deren Besitz lag nicht drin, auch stellte er fest, dass die Gelehrten zu Stolz neigten. Allerdings achtete er die Schriftgelehrten sehr. Insgesamt eine reaktionäre Haltung in einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs. Andererseits ist einmalig, wie er in einer zünftigen Zeit, die Ideale der Gleichheit vertrat. Nach Jacques Le Goff haben die Minderbrüder auf ideologisch-spiritueller Ebene den Uebergang vom Feudalismus zum Kapitalismus vollzogen. „Sich der Welt zu öffnen und ihr gleichzeitig zu widerstehen, das ist ein Vorbild und ein Programm, das gestern wie heute gilt und wahrscheinlich auch in Zukunft gelten wird.“


Samuel Sadaune: La peur au Moyen-Age

24. Juli 2018

Die Ängste im Mittelalter sind gar nicht so verschieden von den unseren. Das naturwissenschaftliche Wissen hat uns diesbezüglich nicht so sehr befreit. Ziemlich anders ist die Darstellung von Angst, damals und heute. Das Buch ist zum Glück sehr reich illustriert. Angst vor der Verdammnis, Angst vor Unwetter, Angst davor, dass die Juden Christenkinder essen, Angst vor einem schlimmen Tod, Angst vor Armut, Angst vor Wegelagerern.


Louis-Jean Calvet: Roland Barthes

24. Juli 2018

In den 80ern hat man uns Volkskundlern Walter Keller empfohlen,  Roland Barthes‘  Mythologies  zu lesen. Was wir natürlich getan haben.  Heute erstaunt mich, wie alt das Buch damals schon war, aber immer noch faszinierte. 1957 kam es heraus. Es waren die Themen, die anzogen, wie la DS oder das Whrestling, etc. Wenn man sich aber dann ans Lesen macht, ist es doch schwere Kost.  Das Scheinbare und das Unscheinbare. Deutsch kam das Buch unter dem Titel „Die Mythen des Alltags“ heraus. Von da ist es nicht weit bis um „Alltag, Sensationen des Gewöhnlichen“, den Walter Keller und Nikolau Wyss herausgegeben haben (und bei dem ich später auch das eine oder andere beitragen durfte). Irgendwann wollte ich doch etwas mehr über Roland Barthes lesen. Jetzt habe ich es getan. Er litt sehr lange an TB, das hat sein ganzes Leben bestimmt (1915 geboren). Bis nach dem Krieg hat er die meiste Zeit in Sanatorien verbracht, also mehr als die ersten dreissig Lebensjahre. Uebrigens, er war auch in Leysin (das die Einheimischen Mouroir nannten), hat mit dem Pastor dort musiziert und ist von der Familie Sigg in Bern regelmässig eingeladen worden. Tochter Heidy soll ein Auge auf ihn geworfen haben. Roland war von klein auf von Theater und Literatur besessen und litt darunter, dass die Kameraden in Paris tolle Schulen besuchten und ihre akademischen Karrieren vorantrieben.  Obwohl er am Schluss Mitglied des prominenten Collège de France war, besser geht es nicht, hat er nie eine Diss gemacht. Er hat drei Anläufe genommen, das letzte Mal bei Lévy-Strauss, aber der wollte ihn auch nicht. Erst allmählich wurde er zum Mythenbeschreiber, wie wir ihn kennen, erst spät, das hat mich erstaunt, stösst er auf Ferdinand de Saussure, dem  Begründer der modernen Linguistik und des sprachwissenschaftlichen Strukuralismus. Barthes  erweitert dessen  Signifikant und Signifikat,  um den Begriff der Zeichen. Er hat die etablierten Semiotiker ziemlich durcheinander gebracht. 1968 wäre er gerne auf der Seite der Studenten gewesen, aber die wollten ihn nicht so recht. Er war ihnen zu wenig militant und zu irgendwie aristokratisch. Er war very british, englische Pullis, Vieruhrtee usf. Alle Figuren jener Zeit waren seine Kumpels, Sartre, Lacan, Althusser, Sollers und wie sie alle heissen. Er muss auch ein ziemlicher Chnorzi und Chnulleri gewesen sein, aber man stelle sich das vor, er hat aus jedem Seminarvortrag, und war er noch so schlecht, Positives herausholen können. Er hat alle Einladungen angenommen und musste sich nachher entschuldigen, weil er keine Zeit hatte. Man hat sich geprügelt, um an seinen Seminaren dabei zu sein. Barthes hat sich nie öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt und es gibt Leute, die behaupten, dass seine Mutter, mit der er ein Leben lang zusammenlebte, die ihn auch auf seinen Auslandeinsätzen in Rumänien,  Aegypten und Marokko begleitete, nicht über seine sexuelle Orientierung im Klaren war. Sehr lange war er mit Michel Foucault befreundet, bis sie eine Lächerlichkeit auseinanderbrachte. Aufgefallen ist mir auch in dieser Biografie (1990), wie nicht selten Schweizer Blätter  erwähnt werden, wenn die Kritiken seiner Aufsätze und Bücher diskutiert werden. La Tribune de Genève, La Gazette de Lausanne. Mein Gott, waren das Zeiten… Was soll man noch von ihm lesen? L’empire des signes (1970) über Japan, über „Fragments d’un discours amoureux“ (1977) gibt es diverse YouTube-Beiträge. Im März 1980 hat ihn Jack Lang zu einem Znacht mit Mitterand eingeladen, der damals noch nicht Präsident war. Am Abend ging er zu Fuss nach Hause, trat auf die Strasse und ist von einem Camion erfasst worden. Schliesslich haben ihn seine Lungenleiden wieder eingeholt. Er ist nicht an den Unfallverletzungen gestorben sondern an einem Lungenleiden. Die Aerzte meinten, dass er nicht mehr kämpfen wollte, um zu schnaufen und zu husten. Das kannte er schon zur Genüge aus den Sanatorien.


Jan Assmann: Totale Religion

22. Juli 2018

Das ist eine Lektüre für jene, die der Meinung sind, dass sich die Intellektuellen zu wenig an den aktuellen Debatten beteiligen. Hier wäre ein solcher Beitrag, sehr aktuell. Aber man muss sich halt schon ein bitzeli anstrengen.

Und es ist auch eine Lektüre für jene, die sich die Mühe gemacht haben, den ganzen Koran nach Gewaltstellen zu durchsuchen. Sie sind jetzt vielleicht zu müde, auch die Bibel nach den gleichen Kriterien zu durchforsten, weil die ja dicker ist. Sie können sich diese Mühe ersparen und dieses Buch lesen, Assmann hat für sie die relevanten Stellen schon fein säuberlich herausgesucht.

Der Aegyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann beschäftigt sich schon eine ganze Weile mit der Gewalt und dem Gewaltdiskurs in der Bibel. Ausführlich in seinem Buch „Exodus“.  Er hat in Fachkreisen, insbesondere bei den Theologen, eine heftige Diskussion ausgelöst. Auch der spätere Papst Razinger hat sich eingebracht, sehr gescheit übrigens.

Worum geht es? Einfach gesagt, ich hoffe nicht zu einfach, Herr Assmann. Er setzt, wie weiland Sigmund Freud, bei Moses an. Freud hatte wohl den richtigen Richer, aber seine Moses-Mordgeschichte, die damals Mode war, ist völlig aus der Luft gegriffen. Ob die Moses-Geschichte nun irgendwas Historisches hat oder nicht, ist hier völlig egal, es geht um die Gründungserzählung, die bis heute weiter überliefert wird. Assmann sagt, dass mit dem Moses etwas in der Religionsgeschichte Singuläres passiert ist. Ein Gott geht nämlich mit einem Volk einen Bund ein. Also ich Gott schau zu euch, ihr haltet dafür mir und nur mir die Treue. So wird radikal aus Religion Politik. Wie kamen die Erfinder dieses Konzepts auf diese Idee? Hier kommt der grossartige Freiburger Alttestamentler Othmar Keel zum Zug. Er geht mit vielen Forschern davon aus, dass die bündnisrelevanten Texte im babylonischen Exil entstanden sind, in dem die Hebräer etwa drei Generationen lang schmachteten. Er kann nun zeigen, dass sie die Bündnis-Idee von den assyrischen, babylonischen Königen übernommen haben. Diese haben von ihren Untertanen als Gegenleistung für ihren Schutz absolute Loyalität verlangt. Aus der Loyalität wurde Treue dem Gott Abrahams gegenüber und er wurde eifersüchtig. Das ist die Idee von der „mosaischen Unterscheidung“. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Und schon als Moses vom Sinai runter kam, wurden die ersten tausend getötet, weil sie eben gegen ihn waren. Fremde, die nicht zu diesem Bündnis gehörten, wurden ohne Skupel reihenweise getötet, eigene Leute ebenfalls, falls sie sich mit Fremden eingelassen haben. Jetzt muss man aber aufpassen. Der Gewaltdiskurs, der in der Bibel sehr verbreitet ist, ist noch nicht physisch ausgeführte Gewalt. Wie aber wird aus dem Gewaltdiskurs Gewalt? Hier kommt das Neue an diesem Buch. Assmann hat sich, und jetzt bekommen wohl einige Bibeli,  in die Staatsphilosophie von Carl Schmitt vertieft (er war ein ziemlich windiges NSDAP-Mitglied). Er entlehnt sich dort dessen Begriff vom „Ernstfall“. Um die Politik von einem Land zu verstehen, müsse man sie vom „Ernstfall“ her  denken und das sei der Krieg. Dann gibt es nur noch Freund und Feind. Freund und Feind sind auch zu Friedenszeiten existierende Kategorien, bloss sind sie durch Gesetze und Verhandlungen wie verdeckt.  Gewalt bricht dann eben im „Ernstfall“ aus, wenn sich der „totale“ Staat über alle anderen Bereiche der Gesellschaft stellt, über die Wirtschaft, die Kultur,… über die Moral. Aehnlich bei der „totalen“ Religion, die sich über alle anderen Bereiche stellt. Typisches Beispiel für den Durchbruch vom Diskurs zur tatsächlichen Gewalt: das „Blut“. Das eigene Blut ist gefährdet durch fremdes Blut. Fremdes Blut, das schliesslich den Bund gefährdet. Im Raum steht ja dann immer der Zorn des eifersüchtigen Gottes. Noch zur ägyptischen Zeit schüttete Gott ganz alleine, ohne Zuhilfe der Menschen, seine Plagen über die Aegypter aus, jetzt nehmen es die Menschen in die Hand, den Zorn Gottes abzuwenden und bringen die Abtrünnigen selber um. Beispiele für die Gewaltausbrüche der Vertreter einer „totalen“ Religion gibt es zuhauf. Bei den Hebräern, Juden, Christen, Muslime. Zuletzt wohl bei den Wahabiten und den Islamisten. Ganz kurz: Religion kann ganz schön gefährlich werden. Vielleicht wie ein Küchenmesser. Mit dem kann man Rüebli schneiden, man kann es aber auch dem/der PartnerIn in den Ranzen stecken. Oder wie es ein welscher FB-Freund hier einmal, zwar etwas vulgär, aber doch treffend ausdrückte: „La religion c’est comme les couilles. On les aime bien, mais on ne les montre pas à tous le monde“. Sorry, Jan Assmann.

 

Jan Assmann und seine Frau Aleida, eine ausgezeichnete Kulturwissenschaftlerin erhalten im Oktober übrigens den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.


Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka)

22. Juli 2018

Ein Familienroman über fünf Generationen, über ein Jahrhundert, in Georgien, in der UdssR, in Berlin und Wien. Nino ist ein weiblicher Vorname. Dass eine Frau schrieb, merkt man dem Roman gut an. Die Frauen verschwinden nicht hinter den heldenhaften Männern, sie stehen ganz im Gegenteil im Mittelpunkt des Geschehens. Die Autorin ist eine gebürtige Georgierin und lebt in Deutschland. Wir begegnen Frauen, die stark, verrückt, leidenschaftlich sind, aber nein, Haratischwili malt nicht schwarz-weiss, auch wenn das Buch literarisch gesehen, meine ich, kein grosser Wurf ist. Man erfährt auch viel über die Funktionsweise der Sowjetunion, denn mehrere der Männer sind Funktionäre. Und sie ist nicht milde mit dem System, gelinde gesagt. Die jüngeren Konflikte in Georgien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kommen zwar auch vor,  aber bleiben im Vergleich zur Familiendramatik eher skizzenhaft.  Man kann also nicht erwarten,  dass man nach der Lektüre mehr von den Kriegen und Konflikten mit Russland und den Nachbarn Georgiens versteht. 1270 Seiten. Das ist viel. Ich habe mir am Anfang einen Zettel gemacht und mir die Namen und Verwandtschaften aufgeschrieben. Das erwies sich mit der Zeit als überflüssig. Sie macht das sehr gut, man behält den Ueberblick leicht. Leicht ist auch die Lektüre. Der Roman ist ja so angelegt, dass die Tante Niza ihrer Nichte Brilka die Geschichte ihrer Famile erzählt. Die einzelnen Kapitel tragen als Ueberschrift keine Ereignisse, sondern Namen von Familienmitgliedern. Ich gehöre nicht zu denen, die meinen, dass keine Seite zu viel ist, aber es bleibt spannend bis zum Schluss und es liest sich leicht. Weil sie ihre Geschichte über soviele Seiten verteilt, läuft sie natürlich auch Gefahr, dass gewisse Mödeli auffallen. Liebhaber haben auffallend oft die Gewohnheit, ihren Geliebten den Hals abzulecken und wer an die Hände schwitzt, schwitzt auf der Handinnenfläche. Diese Handinnenflächen kommen auffallend häufig vor. Aber das sind Kleinigkeiten, einverstanden. Wirklich gut finde ich, wie sie ganz gegen den Schluss über ihre zwölfjährige Nichte Brilka schreibt. Wie sie auf dem Trottoir geht, wie sie spricht, wie sie isst (sie isst nach Farben, sortiert die Speisen nach Farben, rot isst sie nicht, schält deshalb die Radischen). Eine unglaublich nervige Göre, nonchalent, die man, so aus der Distanz, nur lieben kann. Und, ach ja, heisse Schokolade spielt über die Jahrzehnte auch eine ganz wichtige Rolle, eine bestimmte heisse Schokolade. Einer der vielen tollen Einfälle. 


DNS-Transport Zug, Ueli Kleeb und Caroline Lötscher: CHIRSI Kirschenkultur rund um den Zugersee und Rigi

18. Juni 2018

Aktuell, aktuell ! Mit « Chriesi » ist natürlich schon regional eine Grenze gezogen. Ich sage „Chirsi“ und bin damit auf einem anderen Kirschenplaneten, in der Nordwestschweiz. Mit den Chirsi sind wir rund um den Zugersee und am Rigi, wie der Prachtsband im Untertitel heisst. Eine regelrechte Chirsi-Bibel, ein Handbuch zur Kirschenkultur im Zugerland. Herausgegen vom DNS-Transport Zug, der schon durch andere Publikationen und Ausstellungen aufgefallen ist, unter anderen vor allem mit Mark Livingston, Caroline Lötscher und Ueli Kleeb. Letztere beide haben die 600 Seiten A4 mit Goldschnitt gestemmt. Ein erstes Kapitel widmet sich den Sorten, vom  Blauburger bis zum Zuger Truppler. Dann die Botanik des Kirschbaums und 6 Kapitel Geschichte der Kirschenkultur von Ueli Kleeb und Michael van Orsouw. Man kann diese Geschichte auch als Kulturgeschichte des ganzen Kirschbaumraums lesen. Von den Römern bis heute. Die lange Geschichte der Nutzung der Allmend, zu der auch das Pflücken der Kirschen gehörte. Ein Allgemeingut, das genau und streng reglementiert werden musste. Wie erlebte man etwa Zeiten der Hungersnot in einer Kirschbaumgegend, welche Auswirkungen hatte das Aufkommen des Distillierens, welch wichtigen Eingriff in Alltag und Politik stellte die Kontrolle der eidgenössischen Alkoholverwaltung dar (Schnapsvogt), usf. Wie gesagt eine Kulturgeschichte der Region, durch den Kirschbaum gesehen. Alles sehr grosszügig und sorgfältig illustiert. Man gewinnt den Eindruck, dass jeder Zuger Kirschbaum vorkommt. Beim grossen Kapitel Kirsch sind dann tatsächlich alle dabei, die Brenner und schliesslich auch die Kirschtortenmacher samt Rezepten. Dazwischen 50 Porträts von Kirschentätern von Andri Pol. Schön, wenn eine Region sich so ein Werk leistet!


Khaled Khalifa: Der Tod ist ein mühseliges Geschäft

15. Juni 2018

Der Vater hat einen letzten Wunsch. Er möchte neben seiner Schwester im Dorf hinter Aleppo begraben werden und sein Sohn, ansonsten gar nicht so mutig und gar nicht von Liebe für seinen Vater entbrannt, beschliesst, dass das so gemacht wird. Mit Hilfe seines Bruders, der ein grosses Auto besitzt, mit dem er sonst russische Nachtclubtänzerinnen in Damaskus herumchauffiert. Also wird die Leiche eingewickelt und los geht die Reise, mit der gemeinsamen Schwester,  durch ein Land im Krieg. Das heisst Checkpoints, wo die Soldaten Geld sehen wollen oder wo ganz eifrige den toten Vater verhaften wollen, weil er noch auf ihren schwarzen Listen figuriert. Kurz, die ganzen Absurditäten des Krieges werden durch die Schilderungen der Checkpoint-Ereignissen erzählt. Das ist also ein Roadmovie, aber auch ein Huit-clos. Die drei Geschwister eingeschlossen im Auto mit der Leiche des Vaters – eine perfekte Inszenierung für eine ziemlich wilde Familientherapie, die sich durch den Krieg noch zuspitzt. Eine lohnende Lektüre. Hat mir Doris geschenkt!

"Wer das Mitgefühl verloren hat, wird zum Leichnam, der auf der Strasse liegt und beerdigt werden muss. Sie wusste, dass sie ein solcher Leichnam war. Doch zuerst musste sie sterben, und für sie war der Tod ein mühseliges Geschäft."

"...tief drinnen spürte er sein Herz kalt wie eine faule Quitte."

"Oft schon hatte Bulbul sich ganze Menschenscharen vorgestellt, die als Protest dagegen, dass das Leben auf diese Weise verdreckt ist, kollektiven Selbstmord begehen. Es war eine Zumutung, in dieser Menschenflut zu leben, die derart zu Mord und Totschlag aufruft und die Blutrünstigkeit mit Fehden aus den Tiefen der Geschichte rechtfertigt."


Jacques Besson: Addiction et spiritualité. Spiritus contra spiritum

9. Juni 2018

Jacques Besson ist Psychiater und Suchtprofessor in Lausanne. Ich habe ihn an einem Vortrag gehört und dann sein Büchlein gelesen.  Er vertritt die Ansicht, dass bei der Suchttherapie die spirituelle Dimension vernachlässigt wird. Er hat eingehend die Anonymen Alkoholiker studiert und viele Drogenaussteiger, die von ihren spirituellen Erfahrungen berichten. Er wird dabei alles andere als ein Gesundbeter, er bleibt ein Freudianer.  Sein Buch ist ganz und gar unfranzösisch. Französische Autoren neigen zu einem sehr radikalen Laizismus und haben sehr rasch die Sektenkeule zur Hand.  Unfranzösisch auch, weil er seine Bezüge in den USA, in Deutschland und in der Schweiz hat.  In der Bibliographie habe ich keine Handvoll französicher Autoren gefunden. C.G. Jung kommt da vor, den er auch den Alchemistengrundsatz zitieren lässt: Spiritus contra spiritum. Die Quelle des Uebels und die Heilung.  Dann sehr ausführlich den Briefwechsel zwischen Freud und dem Zürcher Pfarrer Oskar Pfister. Gegensätzlicher ginge es nicht, aber die beiden müssen sich trotz allem gut verstanden haben, Pfister war der Pate von Anna Freud. Pfister sah Freud das positivistische Verständnis der Religion nach und war überzeugt, dass die Psychoanalyse in der Seelsorge helfen kann. Als aber „Die Zukunft einer Illusion“ erschien, hat es ihm doch e bitzeli den Hut gelüpft und er verfasste eine Replik unter dem Titel „Die Illusion einer Zukunft“.  Bezeichnend, dass dieser Text erst 2014 französisch erschien.  Ja dann kommen noch die üblichen Verdächtigen vor: Rudolf Otto (Das Heilige), Eugen Drewermannn ziemlich ausführlich, Teilhard de Chardin natürlich und ein anderer dissidenter Theologe, der mir völlig unbekannt war: Maurice Zundel, 1975 in Lausanne gestorben. Kaum war er zum Priester geweiht, schickte ihn sein Bischof buchstäblich in die Wüste, nach Kairo und viele andere Stationen weit weg von zu Hause, wo er hätte Schaden anrichten können. In Paris hat er sich übrigens mit Kardinal Montini angefreundet, den späteren Paul VI. Der muss ihn sehr geschätzt haben, er hat ihn in den Vatikan eingeladen, um ihm die Exerzitien zu predigen.  Auch das eine sonderbare Freundschaft. Zundel wurde nicht zuletzt wegen seiner liberalen Sexhaltung weggeschafft („Le sexe, c’est l’altruisme scellé dans notre chair“) und der gleiche sitzt mit dem Pillenpapst im Vatikan und denken über das  Gottesbild nach. Wir Menschen sind sozusagen verantwortlich für Gott in uns, meint Zundel. Da ist Nietzsche nicht weit weg. „Ich glaube an den Menschen, Schöpfer des Menschseins.“  Irgendjemand müsste mal ein Buch schreiben über die Schweizer Mystiker im 20. Jahrhundert. Aus der Westschweiz könnte man Adrienne von Speyr aus La Chaux-de-Fonds und eben Maurice Zundel aus Lausanne beisteuern. In Lausanne lebt übrigens auch einer der erfolgreichsten spirituellen Guides Deutschlands (er hat die Marke der  Million Bücher überschritten) Pierre Stutz. Ehemaliger katholischer Priester. Man sollte die Diaspora nicht unterschätzen….  Jacques Besson übrigens pflegt mit seinen Patienten die schon sehr verbreitete Full consciousness Meditation. Und das offenbar auch mit neuronal nachweisbarem Erfolg. 


David Collin: Vers les confins. Voyages, dérives, épiphanies

9. Juni 2018

Viele der Reisetexte habe ich schon einmal beim Erscheinen gelesen.  Jetzt sind sie hier zusammengefasst und ich lese sie anders. Ich glaube, dass ich damals mehr journalistische Reportagen erwartet hatte. Jetzt, im Zusammenhang mit den anderen Texten wird mir klar, dass David Collin ein ganz anderer Reiseschriftsteller ist. Ein Poet ist da unterwegs, offen für Zufälle und Einfälle. Les confins sind die äussersten Grenzen. „Les confins nous portent à regarder au-delà de ce qu’on croyait avoir atteint, désignant la frontière la plus éloignée d’un lieu ou la zone la plus éloignée de la frontière, … une limite floue qui n’est pas une négation des frontières, mais un déplacement instable de celles-ci .» David Collin lässt sich treiben, driften, gibt sich Erscheinungen hin. „La ville est un cerveau. Une assemblée de neurones reliés par le hasard, baignant dans le fluide protecteur de la rencontre. Une utopie en tous points dérégulée. Une utopie de la ville dont le rhizome est la loi. Une non-loi qui favorise la coïncidence, la déambulation circulaire des pensées. »  Nicht umsonst heisst sein letzter Roman « Les cercles mémoriaux » - und sein erster „Train fantôme“.


Catherine Lovey, Annette Hug, Martin R. Dean, Michel Mettler: Das bessere Leben - essais agités

19. Mai 2018

Das soll man eine ausgewachsene Essayreihe geben. Das ist nun Nummer eins und wir wünschen Beat Matzenauer und seinen FreundInnen viel Glück für das Projekt! Zum besseren Leben – ist das Thema. Den Anfang macht die Walliser Schriftstellerin Catherine Lovey. Ihr Text ist ein mündlicher Text, in dem sie die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens aufnimmt und weiterentwickelt. Annette Hug geht von ihren Besuchen in zwei Parks in Shanghai aus, wo man auf den Begriff von „zivilisiert“ fällt. Einer der Parks heisst fälschlicherweise englisch gar „Pilotprojekt eines Parks für zivilisiertes Benehmen“. Im Französischen hat man vielleicht einen einfacheren Zugang zu „civilisé“. „Incivilité“ sind Unanständigkeiten. Den chinesischen Freunden scheint es auch um sowas in der Art zu gehen, um Anstand. Cheng Yong  zitiert eine Gedichtzeile aus dem 4. Jahrhundert: „Being a monk in downtown“. Die erfahrene  Uebesetzerin und Autorin meint, das könne auch mit  „Die grossen Einsiedler verstecken sich am Markplatz“ übersetzt werden. Grossartig ein Zitat aus dem Jahr 1933. Chinesische Intellektuelle überreichten im deutschen Konsulat eine Protestnote mit dem formvollendeten Satz: „ Es verlangt uns nicht danach, zu sehen, dass sich das finstere Elend der Wissenschaftler im Mittelalter oder die Bücherverbrennungen von vor 2000 Jahren in heutigen Tagen wiederholen.“  Martin R. Dean bringt uns den Philosophen François Jullien näher, der, um den Fliehkräften des Begriffs „Identität“ und „kulturelle Identität“ beizukommen versucht. Kulturelle Identität versteht er nicht als etwas Fixes, sondern als „Abstand“ zwischen den Kulturen. Der „Abstand“ zwischen den Kulturen ermöglicht es, eine Kultur als „Ressource“ fruchtbar zu machen.  Michel Mettler schliesslich erzählt vom Bahnbau in den USA und der Schweiz und der Hoffnung vom besseren Leben – und von seinem Grossvater, der glaubte, dass der Wohlstand seine Aengste vertreiben könnte.


Isabelle Guisan: Hors-sol

17. Mai 2018

Isabelle Guisan arbeitet seit Jahren mit Flüchtlingen in einer Konversationsgruppe in Lausanne und begegnet ihnen, als Schweizerin/Griechin auch in Griechenland, in der Hauptstadt und auf Leros. Aus dieser Erfahrung sind Porträts entstanden. Shevan, Zelda, Chirag, Osman, etc. Die sind aus einer gewissen Unverbindlichkeit des freien Konversationszirkel entstanden, sie kennt manche nur kurz, manche verschwinden plötzlich, wieder andere verfolgt sie über mehrere Jahre.  Manchmal entsteht aus dieser Situation heraus eine grosse Nähe und Offenheit.  Und Isabelle Guisan ist eine ältere Frau, irritierend allerdings für viele , dass sie keine Kinder hat.  Sie reflektiert auch immer wieder ihre Rolle, stellt sie in Frage, zweifelt.  Die jungen Leute befinden sich materiell häufig in unmöglichen Situationen, aber auch kulturell. Junge Männer möchten heiraten, nach ihrer Tradition, eine Frau ihrer Herkunft . Was nicht selten scheitert. Gleichzeitig leben sie in einer freizügigeren Welt. Die Integration, die wir fordern, ist um einiges schwieriger, als wir so gemeinhin annehmen.  Ich finde den Titel Hors-sol nicht so super. Wir sind ja keine Pflanzen und haben keine Wurzeln. Die letzten Porträts sind Tieren und der Goldrute gewidmet. Etwas irritierend ist das schon.  Aber ähnlich wie bei Eva Menasses Erzählungen denkt sie die Tiere mit.  Aber  immer wenn  Isabelle Guisan schreibt, liest sich das ausgezeichnet.


David Grossman: Eine Taube erschiessen

13. Mai 2018

Heute 70 Jahre Israel.  In diesem Band sind Reden und Essays aus den Jahren  2008 bis 2017 zu lesen.  David Grossman ist nicht nur einer der bedeutendsten Schriftsteller, er ist auch ein sehr guter politischer Autor.  Jetzt kann man sich natürlich fragen, ob nach dem  Austritt der USA aus dem Nuklearabkommen mit dem Iran nicht nochmals alles anders wird im Nahen Osten. Grundsätzlich wohl kaum. Die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern gehört zum Komplexesten, was es gibt und gleichzeitig ist eigentlich allen klar, wie der Streit zu beenden ist. Spätestens seit dem Accord de Genève von 2003 liegt der Friedensplan fertig in der Schublade. Es gibt da nicht 100 Möglichkeiten. Für unser Verständnis des Konflikts ist die Perspektive der Besetzten und Bedrohten ist sicher wichtig. Wichtig ist aber auch, abseits der Israel-Propaganda, zu verstehen, was die Menschen in Israel umtreibt. Und das ist vor allem Angst, sagt Grossman.  Angst, ausgelöscht zu werden. Dagegen nützt auch eine der grössten Armeen der Welt nichts. „Wir erleben jede Bedrohung als existentielle Bedrohung. Ich würde sogar sagen, es ist unsere Obsession, überall existentielle Bedrohung zu sehen.“ Oder: „Für die Bürger…der Mehrzahl der Länder auf der Welt ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie einen Staat haben und dass dieser ihnen für immer gehört. Wir, die Israelis, haben diese Gewissheit nicht.“ Grossman gehört nicht zu den Freunden von Netanyahu. Kurz gesagt meint er, die Regierung würde gerne mit Freunden Frieden schliessen. Also mit den Palästinensern erst reden, wenn sie schon  anerkennende Vorbedingungen erfüllt haben. Frieden schliesse man aber mit Feinden und arbeite dann am Frieden.  „Nur wenn beide Völker ein eigenes Zuhause haben, einen eigenen Ort, an dem sie von den Jahren des Hasses und der Aengste genesen können, nur dann können sie ein erfülltes Leben führen .“


Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene

5. Mai 2018

Ein tolles Buch. Die Frau kann schreiben. Der Titel führt allerdings in die Irre. Es ist kein Zoologiebuch. Jeder Erzählung ist eine Meldung, ein fait divers aus der Tierwelt vorangestellt. Raupen, Igel, Schafe, usf. Diese Tiergeschichten haben aber nur in einer vielleicht dritten oder vierten Ebne etwa mit den darauf folgenden Geschichten zu tun. Alltagstragödien, l’enfer c’est nous. Es geht um Familie, Männer, Frauen, Kinder. Die Leute verstehen sich nicht, können sich nicht verstehen. Alles in einer umwerfenden Sprache erzählt. Auf eine eigene Art sehr dicht, also man blättert nicht so leicht Seite um Seite weiter. Jeder neue Satz bringt einen neuen überraschenden Aspekt, schon nach dem nächsten Komma eine neue Wendung. Also z.B.: „ Am Tag ihres Ausflugs schien eine freundliche Sonne, und alle Peinlichkeiten und Missverständnisse waren vergessen. Sie trug etwas Senfgelbes, offenbar ihre Lieblingfarbe, es passte jedenfalls nicht schlecht zu ihren aschblonden Haaren. Wäre sie ein Ding, dann vermutlich eine klassische Reislampe, durchscheinende, zarte Stäbchen, mildes Licht, knitterbar.“ Oder: „Das waren die banalen, aber morastigen Winkel, in denen eine an sich glückliche Ehe feststeckte. Man kam da, nach eineinhalb Jahrzehnten, nicht mehr heraus. Sie hatte es ihm zu erklären versucht. Es war wie mit einer Allergie. Es genügt, sich die Haselnuss vorstellen, und man ringt schon nach Luft.“ 


Alexandre Voisard: Notre-Dame des égarées

30. April 2018

Alexandre Voisard ist 88 Jahre alt, er war einer der Poeten des jurassischen Befreiungskampfes und damals galten die noch etwas. Voisard ist noch immer ein grossartiger Geschichtenerzähler. In seinem neuesten Roman geht er von einem fait divers aus, von einer Leiche, die in Ocourt, das liegt zwischen St. Ursanne und der französischen Grenze, am Doubs. Voisard „klärt“ den Fall auf, liefert uns eine Geschichte dazu. Sie spielt um 1900 und die Sprache des Romans gleicht sich leicht dieser Zeit an. „égaré“, ein wichtiger Begriff. Er ist im eigentlichen Sinn zu verstehen, nämlich sich zu verirren, aber auch verloren zu gehen. Ein Paar aus Colmar verliert das kleine Töchterchen Stelle mit vier Jahren. Die Mutter verliert sich darob, die Tochter erscheint ihr, sie verlässt den Vater des Kindes und bleibt unauffindbar. Der Vater des Kindes und der Mann der verstörten Frau, ein Violonist, weiss auch nicht mehr weiter. Er lässt alles sausen und begibt sich zu Fuss Richtung Süden, Richtung Rhone. Und das ist ein zweites Motiv im Roman. Helene, die Frau, meinte immer wieder, sie sei von der Rhone, er aber vom Rhein (obwohl als Prager von der Moldau und der Elbe). Und da spielt noch die Notre-Dame eine Rolle, die Helene verehrte, von Gott aber und den Curés gar nichts wissen wollte.

Voisard als Dichter hat übrigens ein richtes Comback gefeiert und zwar durch den Chansonier Thierry Romanens, der einige seiner Gedichte vertont hat. Und diese sind sehr beliebt und bekannt geworden (voir you Tube). Das Buch erhielt kürzlich den Prix des Auditeurs RTS, ein begehrter Publikumspreis.


Lukas Hartmann: Auf beiden Seiten

28. April 2018

Man muss ja nicht unbedingt ein Fan von Lukas Hartmann sein, aber jetzt, wo wir wieder über die P-26 lesen können, wäre auch sein Buch "Auf beiden Seiten" (2015) eine gute Lektüre. Ein Generationenroman aus den Jahren 1989/1990, der doch ausgezeichnet zeigt, wie der Kalte Krieg nachwirkte, ganze Jahrzehnte prägte (inkl. Fichen-Affäre).


Barbara Traber: D Zyt aahalte

24. April 2018

Noch ist nicht aller Tage Abend. Schön, dass es das noch gibt: Eine Dichterin (Barbara Traber), die auf Berndeutsch den Frühling grüsst, eine Übersetzerin (Corinne Verdan Moser), die auf Französisch überträgt, eine Zeichnerin (Danièle Raess), die illustriert, Le Cadratin in Vevey, der verlegt, samt CD, 300 nummerierte Bücher. Ich hab Nummer 84.


Dominik Landwehr (Hg.): Machines and Robots

19. April 2018
Aufsätze, Vorträge, Gespräche - deutsch und englisch - zur Schnittstelle Roboter und Kultur. Sehr gut lesbar für die Laien unter uns. Besonders aufgefallen ein Satz von Mads Pankow: "Die Frage lautet deshalb weniger, ob Algorithmen kreativ sein können, sondern eher, ob das, was wir gemein als 'kreative Arbeit' bezeichnen, wirklich kreativ, also innovativ ist, oder nicht doch vornehmlich auf der Anwendung erlernter Fähigkeiten basiert."
Herausgeber ist Dominik Landwehr!


Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen

12. April 2018

Eine heimtückische Krankheit fesselt die Journalistin Elisabeth Bailey ans Bett. Als sie von einer Freundin eine Topfpflanze geschenkt bekommt und sie unter deren Blättern eine Schnecke entdeckt, beginnt sie diese zu beobachten und fängt an, sich mit Biologie und Kulturgeschichte der Schnecke zu befassen und es entsteht eine Beziehung.

Ein sehr schönes Buch, leise, achtsam. Hat mir Doris empfohlen und ausgeliehen.


Madeleine Knecht Zimmermann: Cathala. L'auberge de ma mère

1. April 2018

In der Zwischenkriegszeit suchten Zehntausende Schweizer ihr Glück im Ausland, weil das Land ihnen kein Auskommen mehr bieten konnte. In den 1920er Jahren zogen viele, vor allem Berner und Waadtländer, in den Südwesten Frankreichs. Der Vater von Madeleine Knecht war methodistischer Pastor und übernahm 1946 die Diasporagemeinde in Agen (Lot-et-Garonne). Der zweisprachige Pfarrer zieht also mit seiner Familie in ein großes Haus, das Cathala heißt und das nicht nur Platz für die Familie bot, sondern auch für viele Gäste, die der Vater mit nach Hause brachte und um die sich seine Frau kümmerte.

Madeleine, eine der drei Töchter, lebte dort von 1946 bis 1962. Aus der Perspektive des Mädchens erzählt sie die nicht immer einfache Integration ihrer Landsleute, die Sprachschwierigkeiten, nicht zuletzt jene ihrer Mutter. Erzählt von den schweren Schuldenlasten, den häufigen Überschwemmungen durch die Garonne. Aber auch von den Gascons, den Leuten vom Land, die sie als offen und freundlich erfährt.

Ein ausgesprochen gut geschriebener Text zu einem wenig bekannten Teil schweizerischer Emigration. Sascha Buchbinder hat mir das Buch geschenkt.


Arno Borst: Mönche am Bodensee

24. März 2018

Das ist eigentlich kein Buch zum Lesen, schon eher zum Durchackern. Erschwerend kommt dazu, dass die Zeilen furchtbar lang sind, was den Lesefluss erheblich bremst. Aber sonst ist das Werk grossartig. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man den Bodenseeraum schon etwas kennt und wenn man eine gewisse Affinität zum Thema hat. Borst geht aber über den Bodenseeraum weit hinaus. Man kann das Buch auch als eine Einführung in das Mönchtum des Mittelalters lesen. Sattelfest in theologischer Sicht, geht es ihm aber vor allem um die gesellschaftlichen und historischen Bezüge. Man begreift das Mönchtum in einer permanenten Wellenbewegung. Am Anfang stehen immer die Ideale der Weltabkehr, der Askese, der Armut. Nicht nur lockern sich die Regeln im Laufe der Zeit, Weltabkehr und Armut will auch organisiert sein. Wer soll für die Mönche aufkommen, welche Beziehung sollen sie zu den Herrschenden pflegen, sollen sie überhaupt in der Seelsorge tätig sein? So folgt eine Ordensreform auf die nächste. Nur die Kartäuser scheinen sich über die Jahrhunderte zu halten. Allerdings ohne Ausstrahlung in der Region. Ganz im Gegensatz dazu etwa die Benediktiner in St. Gallen oder Einsiedeln.

Auch sehr erhellend sind seine Untersuchungen zum Thema der Frauen, die ebenfalls nach einem monastischen Leben trachteten. Daran hatten eigentlich weder die Kirchen noch die Fürsten ein Interesse. Aber als diese sich immer mehr selber organisierten, etwa als Beginen, drohte alles theologischerseits aus dem Ruder zu laufen. Und so machten sich dann doch kirchliche Organe daran, Orden zu organisieren. Allerdings blieb das Problem der Betreuung, weil die Frauen ja nicht Priesterinnen werden konnten und auf die Männer angewiesen blieben. Man kann das Buch auch religionsphilosophisch lesen. Die Ordensgründer legten mit ihren detaillierten Regeln ein Versprechen ab: Wenn du dich an die Regeln hältst, so kommst du in den Himmel. Das hat aber nie funktioniert. Selbst wenn Mönche freiwillig gehungert und sich harten Kasteiungen unterworfen haben, um Gott zu gefallen, sind ihnen diese Tugendübungen zum Nachteil geraten, indem etwa ihre Klöster reicher wurden, immer mehr Männer aufgenommen werden wollten und sie so zu grosser Macht kamen, die sie am Anfang gar nicht gesucht haben. Die Mönchsgeschichte ist also auch eine Geschichte des Scheiterns.

Also ein tolles Buch, das mir Stefan Keller warm ans Herz gelegt hat und dem ich dafür danke.


Clifford Geertz: Die künstlichen Wilden

20. März 2018

Clifford Geertzs "Die künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller" (dt 1990) ist mir zufällig in die Hände geraten und weil ich mich dabei an sein Buch "Dichte Beschreibung" erinnert habe (was ich damals begeistert las), hab ich mich auch da eingelassen. Geertz nimmt sich hier ein paar Ethnologen-Klassiker vor und macht eine Art literarische Analyse. Er unterscheidet mit Roland Barthes Schriftsteller und Schreiber. Für Schriftsteller ist "schreiben" ein intransitives Verb. Er ist "ein Mensch, der das Warum der Welt aufgehen lässt in einem Wie schreiben." Für Schreiber ist es ein transitives Verb. Sie schreiben etwas. Das Wort ist nur Mittel. Nach Geertz ist demnach z.B. Claude Lévy-Strauss ein Schriftsteller und "Traurige Tropen" "die Geschichte einer Suche: der Abschied von vertrauten, langweiligen, merkwürdig bedrohten Gestaden; die mit Abenteuern verbundene Reise in eine andere, dunklere Welt voller vielfältiger Phantasiegebilde und seltsamer Offenbarungen...; die Rückkehr in die Heimat, um, ein wenig wehmütig, ein wenig müde, den Verständnislosen, Geschichten zu erzählen." In den "Traurige Tropen" findet er, begegne einem, wie im gesamtem Werk von Lévy-Strauss, eine aussergewöhnliche Pose "geistesabwesender Abgeschlossenheit".

Hat was.


Cuno Affolter: Noirs suaires - Schwarze Leichentücher

12. März 2018

Cuno Affolter betreut nicht nur die Comic-Abteilung der Lausanner Stadtbibliothek, er ist auch ein leidenschaftlicher Sammler. Eine Sorte Sammelgut ist nun in einem schönen Sammelband erschienen - Kohlepapiere. Im Nachwort erzählt uns Cuno die Geschichte des Kohlepapiers und dass das Cc ein letzter Zeuge ist (Carbon copy). Das Vorwort verfasste der ehemalige Direktor vom musée de l'Art brut in Lausanne, Michel Thévoz. Das fängt bei den Brandzeichen der Sklaven an, geht über Bürokratisierung, Malewitsch, Twombly, Yves Klein, Kafka, Proust und Cocteau, natürlich le signifiant et le signifié - kurz, eine ziemlich gescheite Sache, "...ein Sieg des Sicht- über das Lesbare".


Arno Camenisch: Der letzte Schnee

11. März 2018

Zwei Männer stehen am Skilift und reden miteinander. Das ist die Geschichte. Und damit wir Unterländer uns auch ein bisschen amüsieren, sind im Text oberländische und italienische Wörter eingestreut. Das bringt Exotik in die Sache und viele von uns lieben das. Sorry, liebe Camemisch-Fans. Lasst euch nicht den Spass verderben, ihr khoge Chaibe, cofferdeckel.


Anna Felder: Le ciel est beau ici aussi

11. März 2018

Anna Felder hat zurecht den Grand Prix der Schweizer Literatur 2017 bekommen. Dieser Text ist zuerst als Feuilleton in der NZZ 1970 erschienen, in der Schwarzenbach-Zeit. Erst 72 in der Originalsprache und 2014 erst in der französischen Übersetzung. Eine italienische Lehrerin unterrichtet im Auftrag des italienischen Konsulats die Immigrantenkinder im Aargau.

Sie hat ein sehr feines Gespür für das Besondere im Alltag. Eine sehr zerbrechliche Sprache, immer zwischen Eigenem und Fremdem. "Il y avait ici et là des tournesols pas encore éclos, des campanules d'un bleu que je n'avais jamais vu, éclatant, presque électrique, et toutes ces autres fleurs que les Suisses savent nommer avec précision, avant même de dire qu'elles sont belles."


Riad Sattouf: Der Araber von morgen 1-3

19. Februar 2018

Riad Sattouf ist ein Star unter den französischen Comic-Autoren und sein „L´arabe du futur“ ein weltweiter Bestseller. Bisher sind es drei Alben, fünf sollen es werden. Sattouf ist in Libyen und Syrien aufgewachsen, seine Mutter ist Französin, sein Vater Syrer, der in Paris studiert hat. Er erzählt nichts anderes als seine Kindheit. Das ist manchmal lustig, manchmal komisch, manchmal schrecklich, manchmal zum Schreien. Vor allem Exilsyrer und Exillibyer sollen sich halb totlachen. Die arabische Gesellschaft bekommt ihr Fett weg. Lehrer oder Lehrerinnen gibt es nur als schlagende Monster, das Lieblingsspiel der Kinder ist Judentöten und die Beschneidungsgeschichten sind urkomisch. Der Vater, der als aufgeklärter, moderner Akademiker zurück in seine Heimat kommt und eben „den Araber von morgen“ vor Augen hat, wird immer mehr von den Traditionen seiner Familie, seines Clans eingeholt. Wirklich sehr gut gemacht. Vielleicht ist das Vergnügen noch grösser, wenn man die arabische Welt ein bisschen kennt. Die drei Bände haben mir übrigens das Christkindli gebracht.


Emmanuelle Bayamack-Tam: Je viens

18. Februar 2018

Mit dem ersten Satz gibt Bayamack-Tam den Ton an, der den ganzen Roman bestimmt : « L’un des grands avantages de la négligence partentale, c’est qu'elle habitue les enfants à se tenir pour négligables. » Sarkastisch, böse, witzig. Ein Dreigenerationenroman - die wiederheirateten Grosseltern mit je einem Sohn und einer Tochter, die sich verheiraten und einer Adoptivtocher. Diese erzählt zuerst. Sie ist schwarz und wird immer dicker. Einige Monate nach der Adoption wollen sie die Eltern wieder zurückbringen. Das geht dann doch nicht. Es erzählt dann auch die Mutter und die Grossmutter, die übrigens alle im gleichen Haus wohnen. Es geht um Schiffbruch, Hass, Bedauern. Gibt es auch auf deutsch übrigens.


Wolfhard Klein: Mausetod!

17. Februar 2018

Die Kulturgeschichte der Mausefalle ist auch eine Geschichte der Tötungstechniken von Menschen. Man hat je nach Epoche die Methoden, die für die Menschen entwickelt wurden, auch für die kleinen Nager abgewandelt. Als die Guillotine erfunden wurde, hat man auch bald Mäuse und Ratten guillotiniert, z.B.. Die Nähe der beiden Geschichten zeigt u.a. auch die Anzeige für "Terrorfallen", ausgerechnet aus dem Jahr 1933.



Wassili Grossman: Leben und Schicksal

2. Februar 2018

Leseempfehlung aus aktuellem Anlass. Das bewegende Stalingradepos von Grossmann.


Eugénie Goldstern: La Mémoire et l'Oubli

19. Januar 2018

Eugénie Goldstern war eine Pionierin der modernen Volkskunde und hatte ein erschütterndes Schicksal. 1884 in Odessa geboren, floh sie mit ihrer Famile vor den Pogromen nach Wien, studierte dort Volkskunde, später in Neuchâtel, beim berühmten Arnold van Gennep und doktorierte später in Freiburg im Ue. Dazwischen unternahm sie viele Reisen in die Alpengebiete und sammelte vor allem Kinderspielsachen, die sie dem Volkskundemuseum in Wien überließ. Sie schrieb über das Münstertal, Aostatal, Wallis und über Bessans. Das war ihre Diss. Bessans liegt in der Maurienne (Savoyen). Das Dorf liegt auf 1760m und man kannte dort noch die Stallwohnungen, wo Tiere und Menschen im gleichen Raum lebten. Rechts die Kühe, unter den Betten die Ziegen. Der ganze Raum liegt einen Meter oder noch mehr unter dem Boden draussen. So hat man die harten Winter überstanden. Eugénie hat dort mehre Jahre gelebt und hat alles selber sehen und erleben wollen, nichts aus zweiter Hand. Ihre Arbeit ist noch heute lesenswert und sie ist in diesem Buch zu lesen, zusammen mit einer Biografie von Albert Ottenbacher. 1914, mit Ausbruch des Kriegs, musste sie als Oesterreicherin Bessans fluchtartig verlassen. In Wien hat man gerne ihre Objekte und ihre Arbeiten angenommen, auch ihr Geld. Sie hat mall 250‘000 Kronen für das Museum gespendet. Zum Vergleich: im gleichen Jahr hat die öffentliche Hand für die sieben grossen nationalen Museen 400‘000 Kronen ausgegeben. Akademisch kriegte sie aber in Wien keinen Fuss auf den Boden. Sie verehrte ihren Professor, Hofrat Michael Haberlandt. Später übernahm dessen Sohn Arthur das Museum. Ein ausgekochter Nazi,der im Museum NSDAP-Versammlungen und Veranstaltungen organisierte. Er verfasste rassistische und antisemitische Schriften, liess in Polen volkskundliche Sammlungen plündern. Es gibt ein Wien Wiki Geschichte. Da verliert man kein Wort über die Nazi-Vergangenheit von Arthur Haberlandt. Ich hab denen geschrieben. Sie wollen mal schauen. Nun, der hat natürlich auch nichts für Eugénie Goldstern unternehmen wollen. Sie wurde im Juni 1942 ins Vernichtungslager deportiert, wo sie starb.